Kämpfer wider das Vergessen

Gabor Hirsch war einer der letzten Auschwitz-Überlebenden. Jetzt ist der Kämpfer gegen Rassismus und Antisemitismus 90-jährig in Zürich gestorben. Erinnerung an eine Begegnung in Luzern. Von Peter Müller.
Von  Gastbeitrag
Gabor Hirsch an einem Vortrag in Luzern im November 2018. (Bild: Peter Müller)

Ein kleiner alter Mann mit Brille, in Sandalen und Socken, jetzt, Ende November 2018. Er sitzt in einem grossen, roten Stuhl und wirkt ruhig und konzentriert, die Hände sind verschränkt auf seinem Schoss, und am Boden liegt ein Gehstock.

Ein solcher Mann könnte einem vielerorts begegnen, im Bus zum Beispiel, oder im Migros-Restaurant. Ein 08/15-Pensionär? Ja, wenn da nicht seine Lebensgeschichte wäre.

Gabor Hirsch, gebürtiger Ungar, 88 Jahre alt, hat 1944/45 sieben Monate Auschwitz überlebt. Jetzt, an diesem Novembernachmittag 2018, sitzt er in der Fachhochschule für soziale Arbeit in Luzern und erzählt von seinem Leben. Im Programm sind 30 Minuten vorgesehen. Danach soll er während 75 Minuten von drei Studierenden interviewt werden.

Das Programm mag wohldurchdacht sein, einhalten lässt es sich nicht. Gabor Hirsch erzählt und erzählt in seinem charmanten Ungarisch-Deutsch, und die Verantwortlichen der Veranstaltung lassen ihn machen. Er überzieht um 50 Minuten.

Vom anschliessenden Interview bekommen wir noch 15 Minuten mit, dann müssen wir weiter, um noch die Wanderausstellung zum Thema anzuschauen, die 2019 im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen war – und dann auf den Zug – der Weg zurück nach St.Gallen dauert immerhin gut zwei Stunden.

Beim Verlassen der Aula bin ich innerlich ziemlich aufgewühlt. Zu Beginn der Veranstaltung erinnerte mich Gabor Hirsch an einen alten Baum, der unglaublich viel erlebt hat und etwas ramponiert und eingefallen ist. Und eben: Der ganze Irrsinn des Holocaust fand nicht in irgendwelchen längst vergangenen Zeiten statt, sondern im Leben dieses alten Mannes, der immer noch lebendig und präsent wirkt.

Später denke ich: Da sitzt ein Überlebender, also jemand, der sozusagen den Sechser im Lotto gewonnen hat. Sechs Millionen andere haben es nicht geschafft. Hinter Gabor Hirsch türmen sich riesige Leichenberge. In seiner Beamer-Präsentation erscheinen diese Toten als blosse Listen und Statistiken. Aber auch sie sind schrecklich, weil sie die gigantische, bürokratisch-industrielle Dimension des Holocaust aufzeigen.

Wieder etwas später realisiere ich: Seine Erzählung mag routiniert sein, eingeübt bei verschiedensten Gelegenheiten – einen Sog entfaltet sie trotzdem. Da redet wirklich der Zeuge eines unfassbaren, jede Vorstellungskraft übersteigenden Völkermordes. Und in seiner Erzählung tönen andere Stimmen mit. Die Stimmen von den ZeugInnen bei den Nürnberger Prozessen 1945-1949. Die Stimmen von Opfern antijüdischer Gewalt aus den letzten 2500 Jahren.

Nicht minder beschäftigen mich die Bezüge zur Gegenwart. Auch heute tun doch rund um den Globus Menschen anderen Menschen die entsetzlichsten Dinge an – ob in Syrien, im Jemen oder in Burma. Ich will hier aber keine weltgeschichtliche «Rangliste des Leidens» aufstellen. Das wäre total verkehrt und würde nichts bringen.

Viel wichtiger dünkt mich die Frage, was wir gegen die heutigen Missstände in der Welt tun können – jeder auf seine Weise, vom Platz aus, auf den ihn das Leben gestellt hat.

Und eine letzte Frage: Welche alten ZeitzeugInnen wird man wohl in 50 Jahren zu solchen Veranstaltungen einladen?

Kurz: Diese Begegnung hat mich wirklich bewegt und aufgewühlt. So setze ich mich denn auch spät am Abend noch hin, um diese Zeilen zu notieren. Das muss einfach sein, sonst gerate ich innerlich durcheinander – und tue Gabor Hirsch Unrecht. Die Veranstaltung in Luzern hat nämlich auch mich zum Zeitzeugen gemacht.

Die ZeitzeugInnen des Holocaust sind am Aussterben. Bald wird man von ihnen nur noch Texte und Fotos, Ton- und Filmaufnahmen haben. Da ist jede Begegnung mit einem solchen Menschen wichtig.