Julia stirbt emanzipiert
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Das fängt ja gut an – gleich in der ersten Szene steht in roter Leuchtschrift über dem Kopf von Julia geschrieben: THE END. Stimmt natürlich, die ganze Welt weiss, wie die berühmteste Liebesgeschichte der Welt endet. Aber der Anfangsmonolog macht Hoffnung, dass The End hier anders sein könnte.
Es fängt wirklich gut an. Tabea Buser kommt halb unwillig auf die Bühne, schiebt erstmal die Balkonattrappe zur Seite, redet Klartext zum Publikum: Julia hat keinen Bock auf Anhimmeleien. Schluss mit den Rollenklischees. Liebe, diese Erfindung der Romantik, hat uns dermassen in den Schlamassel geführt – was sie will, ist eine Beziehung auf Augenhöhe.
Das Publikum hat sie so rasch im Sack. Und auch Romeo ist nicht von gestern. Julius Schröder, mit Turnhose, Teeniefigur und Liebesdepressionen eher der Antiheld, ist zwar rettungslos verknallt in diese Julia, aber begreift rasch: Einen Balkon mag sie nicht, Anbetung schon gar nicht. Und bei der letzten Liebesnacht ist auch über Wichtigeres zu reden als über Nachtigall und Lerche.
Es sind starke, genderkluge Eingriffe in das Original, die Mirja Biel bei ihrer ersten Regiearbeit am Theater St.Gallen vornimmt – übrigens mehr als ein Jahr nach dem Openair-Klamauk um Romeo und Julia, den das Ensemble damals im Sommer 2020 nach dem ersten Lockdown im Stadtpark spielte, noch von der Pandemie gezeichnet. Jetzt ist im Provisoriums-Umbau wieder beinah normales Theater möglich – an der Premiere blieben allerdings noch etliche Sitze frei.
Hingehen lohnt sich aber. Denn der alte Stoff ist erfrischend heutig. Die Figuren fallen aus ihrer Rolle, schalten vom 16. ins 21. Jahrhundert und wieder zurück; ganze Passagen, so etwa die Wirren um die zwei Briefe an Romeo, werden kurzerhand, hier von Paris, nacherzählt. GetAbstract mit Romeo&Juliet, der Klassiker wird, wie sich dies heute kaum noch anders denken lässt, dekonstruiert – zumindest in Ansätzen.
Dennoch bleibt viel Shakespeare übrig. Mehr als üblich sogar: Immer wieder bricht der englische Text den Fluss der Dialoge, wichtige Stellen kommen so doppelt auf die Bühne, der unübertreffliche Versklang des Originals ist ein Genuss. Und zugleich umgeht die Regie so die Pathosfalle; wirds zu gefühlig, reisst der Textfaden. Auch die überdrehten Kostüme von Katrin Wolfermann und die nackten Scheinwerfergestänge auf Matthias Nebels idylle-freier Bühne tragen ihr Teil zur Distanzierung bei.
Kein Gift gegen die Tradition
Das Personal ist, ohne dass die Story gröbere Lücken bekommt, geschickt reduziert und passgenau besetzt. Fabian Müller trumpft auf als Mercutio, der das Stück vorantreibt. Tobias Graupner wirbt als Romeos blasierter Gegenspieler Paris chancenlos um Julia. Christian Hettkamp übernimmt als Julias besorgte Amme noch ein paar Jobs mehr als im Original. Und Birgit Bücker repräsentiert mit der extrovertierten Lady Capulet gleich die ganze gnadenlosen Väterwelt.
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Romeo (Julius Schröder) wird verbannt, rechts Mercutio (Fabian Müller) und Amme (Christian Hettkamp).
Diese Alten und ihre tödliche Hasslogik aber behalten auch in der anfangs feministisch unterwanderten St.Galler Inszenierung die Oberhand. Gegen Lady Capulet und ihre schneidende Fürsorge ist kein Kraut gewachsen, nicht einmal in der Apotheke im Innerrhodischen, wo sich Romeo in einer witzigen Filmeinblendung sein Gift holt, als ihn in der Verbannung die Nachricht vom Tod Julias erreicht.
Und auch die Liebe ist die Liebe ist die Liebe. Amors Pfeil trifft wie seit über 400 Jahren – zwar nicht direkt in das Herz der Liebenden, sondern ironisch in den Bühnenhimmel, von dem circa 99 silbrige Luftballons zu Boden schweben, ein Fest fürs Auge. Wie eh und je streckt Amor auch diese Julia und diesen Romeo nieder, so unverständlich wie unaufhaltsam. Wieder gibt es nur den Einen und nur die Einzige – und keinen anderen Weg als den ins Liebesverderben.
Wir schliessen sie rasch ins Herz, diese zwei ungeschickt Liebenden, wir sind ihnen nah wie im Kino, wenn ihre Küsse und Flüstereien in Grossprojektion übertragen werden auf die Leinwand – bevor diese unvermittelt als Leichentuch über Julia niederfällt. Musikerin Réka Csiszér legt unter das Stück einen Live-Soundtrack mit Cello, Synthesizer und imposanter Stimme, der die Emotionen allzu oft allerdings überdröhnt.
Der letzte Schritt fehlt
Am Ende flackert die Leuchtschrift nochmal auf: THE END. Es endet, wie es enden muss. Aber man hätte zu gern erfahren, wie dieses Ende aussähe, wenn die Inszenierung auf ihrer Anfangsbehauptung beharrt und dem System Verona definitiv «Farewell» gesagt hätte. Gelegenheit dazu wäre spätestens dann, als Romeo tot daliegt und sich Julia wieder berappelt. Zwar würde man auch dem jungen Mann eine geschlechtersolidarische Weiterexistenz gönnen. Aber selbst mit einem toten Romeo wäre noch ein Stück Emanzipation denkbar.
Nächste Vorstellungen: 1., 3., 25. und 31. Oktober, Theater St.Gallen
Julia und Romeo ist ein Triumph starker schauspielerischer Leistungen, allen voran der beiden Haupdarsteller:innen, und einer inspirierten Dramaturgie. Doch der letzte Schritt fehlt – die Antwort, wie eine toughe junge Frau des 21. Jahrhunderts das Hasssystem à la Verona, das Muster von Mord und Totschlag, von Heimlichliebe und Zwangsverheiratung unterlaufen könnte. Ohne am Schluss die Pistole an die eigene Schläfe drücken zu müssen.