Journalismus für die Leute
Es ist Zeit, loszulassen. Nicht nur aus ökologischen Gründen macht es heute keinen Sinn mehr, jeden Tag drei oder vier Bünde zu drucken und frühmorgens in alle Himmelsrichtungen und Haushaltungen zu karren. Es ist auch eine Frage des Geldes. Die Abozahlen schwinden seit Jahren, die Print-Inserate sowieso und die digitalen Kanäle und Möglichkeiten sind heute so enorm, dass es immer weniger journalistische Gatekeeper braucht.
Allerorts werden also Sparprogramme mit hübschen Namen aufgefahren, werden Redaktionen «verschlankt» oder anderswie umgebaut. Nur weil man noch an einem System hängt, das früher einträglich war, aber längst überflüssig geworden ist. Und weil man noch einige Shareholder bedienen will.
Da stellt sich die Sinnfrage. Es bringt ja nichts, das Tagesgeschehen im Print zu protokollieren, ebenso gut könnte man das Internet ausdrucken, denn nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Twitter und ein paar relevante Online-Newsportale reichen, um sich über die aktuellsten nationalen und internationalen Entwicklungen zu informieren.
Was vielen heute fehlt, ist guter, relevanter Lokaljournalismus. Diesen zu betreiben, ist nicht einfach, wenn man bei einer grossen Tageszeitung angestellt ist, die dauernd Ressorts und Redaktionen zusammenlegt und so vor allem das Lokale schröpft.
Es ist auch nicht wirklich einfacher, wenn man bei einem kleinen Medium arbeitet, zum Beispiel bei der «Schaffhauser AZ», bei «Tsüri», «Bajour», dem «Lamm» oder einem Kulturmagazin wie Saiten, weil da in der Regel ebenfalls Ressourcen, sprich Zeit und Geld und Leute fehlen. Aber es ist tendenziell befriedigender. Sagen jedenfalls die meisten, die dort arbeiten. Weil der Rückhalt und die Identifikation beim Publikum stärker sind, weil die Beziehungen enger und wechselseitiger sind, weil die Themenwahl selektiver und mehr nach dem Lustprinzip erfolgen kann. Und natürlich, weil man keine Tagesszeitung füllen muss.
Saftige Ansage aus Olten
Nehmen wir die Kulturmagazine. Saiten hat einige Schwestern und Brüder in der Deutschschweiz: das «Coucou» in Winterthur, die «Programmzeitung» in Basel, das «041» in Luzern, das gerade Jubiläum feiert (mehr dazu unten), das «AAKU» in Aarau, «ZugKultur», die «Berner Kulturagenda» oder das «Kolt» in Olten.
Manche davon verstehen sich wie Saiten nicht ausschliesslich als Kalender und Kulturmagazin im klassischen Sinn, sondern packen auch regelmässig gesellschaftliche und politische Themen abseits der Kultur an, machen Dossiers und Schwerpunkte mit mehreren Texten zu einem Thema.
Finanziert sind alle unterschiedlich, manche von der Kulturförderung, andere von Abos und Inseraten, wieder andere machen regelmässig Crowdfundings oder arbeiten sogar halbwegs ehrenamtlich. Das fördert zum Teil auch ungesunde Abhängigkeiten oder wirkt sich da und dort auf die Professionalität aus. Keine idealen Voraussetzungen.
Das «Kolt» in Olten versucht nun einen neuen Weg zu gehen, indem es sein Publikum radikal ins Zentrum stellt. Die Ansage ist saftig: «Wir wagen einen neuen Lokaljournalismus für das 21. Jahrhundert, der sich an den Leserinnen und Lesern orientiert und so zu einem Werkzeug der Gesellschaft wird», sagt Yves Stuber, der Erfinder und Verleger des Magazins.
Wir treffen ihn an einem warmen Septembernachmittag in der «Kolt»-Redaktion, einer zum Coworking-Space umgebauten Wohnung in der Nähe des Strandbads in Olten. Der37-Jährige sucht seit Jahren Antworten auf die Frage, mit welchem Geschäftsmodell man einen Lokaljournalismus realisieren kann, der der Gesellschaft langfristig nützt.
«Ehrlich gesagt: Ich weiss es auch nicht», sagt Stuber und lacht. «Aber ich bin überzeugt, dass Journalismus lokal relevante gesellschaftliche Herausforderungen und Fragen lösungsorientiert thematisieren muss. Und dass die Leserinnen und Leser für diese aufwendige Arbeit angemessen bezahlen. Darum sollte der Lokaljournalismus des 21. Jahrhunderts von unmittelbarer Relevanz für sein Publikum sein und aus dessen Perspektive heraus entwickelt werden.»
Die Welt sei im Wandel, erklärt Stuber. Auf der einen Seite stehe der wachsende Reformstau auf allen gesellschaftlichen Ebenen und Themengebieten, auf der anderen Seite die technologischen Mittel und ein immenses Wissen, das einen ebenso grossen Innovationsschub auslösen könne, «um nachhaltige Entwicklungen zu initiieren, um unsere Prozesse zu beschleunigen, die Demokratie zu modernisieren und so die vielen grossen und kleinen Probleme effizient und effektiv zu lösen – auch in Olten.»
Mit dem neuen «Kolt», das ab Oktober erscheint, wollen Stuber und sein Team dazu einen Beitrag leisten.
2019 der Relaunch, jetzt die Spitzkehre
Spulen wir nochmal zurück. Das «Kolt» wurde 2009 von Stuber als lokales Kulturmagazin gegründet, schielte aber da und dort auch gerne über die Ränder. Anfang 2019 kam der Relaunch. Davor habe ein gewisser Tunnelblick existiert, erklärt Stuber, man sei zu fest auf Olten und die nähere Umgebung fixiert gewesen. Die Abozahlen stagnierten. Das wollte man ändern, indem man sich mehr nach aussen orientierte, über die Region hinaus, und indem man auf die Vorzüge eines Printmagazins setzte. Das «Kolt» sollte neu auch Liebhaberinnen und Ästheten ansprechen. Dazu holte man sich Studio Feixen ins Boot, grafisch gesehen ein ziemlicher Coup.
Olten war nach wie vor der rote Faden, aber eher subtil. «Das ist nicht so gut ange- kommen», sagt Stuber. Einige langjährige Abonnentinnen und Abonnenten seien abgesprungen, es fehlte ihnen der Lokalbezug, und auch die Grafik sei teilweise angeeckt.
«Geschäftlich hat der Relaunch nicht die erhofften Verbesserungen gebracht, obwohl wir zum Teil sehr gutes Feedback erhalten haben, auch aus dem Ausland, aber eben nur vereinzelt.» Auch der Impact habe gefehlt, erklärt er. «Wir haben uns oft gefragt: Für wen machen wir das eigentlich? Wir wollen ja etwas bewirken, Dinge anstossen, Debatten anregen. Dabei liegt die Antwort eigentlich auf der Hand: für die Leserinnen und Leser. Und mit ihnen!»
Darum jetzt die Spitzkehre. Vollgas zurück in die Region Olten. «Aber thematisch öffnen wir uns radikal», erklärt Stuber, «wir werden zur digitalen Lokalzeitung und kommen raus aus der Kulturschublade.» Denn der Unmut über die klassischen Lokalmedien sei auch in Olten gewachsen in den letzten Jahren, darum brauche es einen Gegenentwurf.
Auch diesbezüglich ist Stuber ein kleiner Coup gelungen: Yann Schlegel wechselt vom «Oltener Tagblatt», das seit 2018 zu CH Media gehört, zum «Kolt» und hat dort ab Oktober ein 80-Prozent-Pensum als Journalist. Der zweite Mann in der Redaktion ist Adrian Portmann (60 Prozent), bisher als Freier ebenfalls fürs «Oltener Tagblatt» tätig.
Ein Team von ambitionierten Optimistinnen und Optimisten
Aber was genau ändert sich beim «Kolt»? Wie entsteht dieser «kollaborierende, konstruktive, lösungsorientierte Journalismus», den Stuber anpreist? Wie werden die Inputs der Mitglieder «zum integralen Element und zum Auftrag an die Redaktion»?
Stuber und sein neues Team, zu dem auch die «Concierge» Finja Basan, Webentwickler David Degen, Fotograf Timo Orubolo, Korrektorin Andrea Hänggli und der Gestalter Roger Lehner gehören, setzen auf eine gemischte Strategie: Das journalistische Herzstück ist eine Online-Plattform samt Mitglieder-Login und Inputfunktion, über die die Leserinnen und Leser anonym oder mit Namen «Aufträge» an die Redaktion formulieren und so den Inhalt mitbestimmen können.
Ergänzt wird diese Plattform von einer Art gedrucktem Bulletin samt Kalender, das alle zwei Wochen erscheint, sowie regelmässigen Briefings per Newsletter – beides kann man bei Bedarf auch abbestellen, das dadurch gesparte Geld kommt einer lokalen Initiative zugute.
Ausserdem veranstaltet das neue «Kolt» jeden zweiten Monat ein Treffen in der Stadt, wo sich das Team mit Mitgliedern, Expertinnen, Protagonisten und Meinungsmacherin- nen trifft, um über die neusten Erkenntnisse, Fragen und Möglichkeiten zu diskutieren.
Das ist genauso ambitioniert wie es klingt. Auch auf der finanziellen Seite. «Die Kosten werden auf mehrere Schultern verteilt», erklärt Stuber. Konzeption und den Aufbau hat er aus dem verbleibenden Geld des Verlags finanziert, etwa 30’000 Franken insgesamt. Er selber verzichtet seit Frühling und bis zum Breakeven auf einen Grossteil seines Lohns. Weiter wird er mit knapp 50’000 Franken von den «Freunden des Kolt» unterstützt: mehrere private Mäzene und die Gottlieb- und Hans-Vogt-Stiftung. Hinzu kommt «ein sehr treuer Stamm von Partnerinnen und Inserenten», die jedes Jahr zusammen etwa denselben Betrag investieren.
Den dritten Teil stemmen die Leserinnen und Leser des «Kolt». Aktuell sind es knapp 1000, der Breakeven wäre mit 1500 zahlenden Mitgliedern erreicht. Allerdings: Bis jetzt hat ein Abo 100 Franken pro Jahr gekostet, neu sollen es 220 Franken sein oder 20 Franken pro Monat. Wenn das neue «Kolt» startet, dürfen es aber alle zuerst einmal drei Monate lang kostenlos testen. «So hat man einmal das ganze ‹Kolt›-Rundum-Erlebnis und kann sich nachher entscheiden», erklärt Stuber.
Trotzdem: Für das erste Jahr, insbesondere für die ersten drei Monate, fehlen ihm noch rund 150’000 Franken. Stuber hofft auf Stiftungen und private Darlehensgeberinnen oder -geber. Alles in allem ist er zuversichtlich, schliesslich habe er recht «konservativ budgetiert» und die Region durste nach einem publikumsorientierten Lokaljournalismus, «den die Region Olten auch verdient».
Eine Haltung, die sich auch in den neu formulierten Prinzipien des «Kolt»-Teams wiederfindet: «Wir sind Optimisten, uns in- teressiert der ideale Zustand», heisst es unter Punkt neun.
Happy Birthday «041»!
Das erste Luzerner Kulturmagazin, damals noch ohne 041 im Namen, ist im September 2000 erschienen. Es bietet Hintergründe zum regionalen Kulturleben, Unterhaltung und ähnlich wie Saiten einen Kalender mit allerhand Tipps und Hinweisen für die guten Abende der Woche. Im September feierte unsere «kleine Schwester» aus der Zentralschweiz ihre 350. Ausgabe und gleichzeitig den 20. Geburtstag – Gratulation aus dem Osten!
Ein grosses Fest während Corona: schwierig. Darum haben sich Redaktionsleiterin Anna Chudozilov, Dominik Bienz vom Verlag und Gianluca Pardini von der IG Kultur Luzern, die das Heft finanziert, etwas anderes einfallen lassen: Zur Feier der runden Nummern verschenken sie ihre Oktoberausgabe an 350 Menschen, die sich für das Zentralschweizer Kulturleben interessieren. Aus diesen werden wiederum 20 ausgelost, die sich über ein Jahres- abo von «041 – Das Kulturmagazin» freuen dürfen.
Auch das Jubiläumsgewand ist besonders: Die «041»-Septemberausgabe machts rückwärts. Einmal im Jahr gibt die Redaktion das Heft aus der Hand und überlässt es einer Person, Organisation oder einem Kollektiv zur freien Gestaltung. Dieses Mal war das Luzerner Webmagazin «frachtwerk» an der Reihe und hat das Heft unter der Leitung von Juliette Dunaigre, Maurice Knoepfli und Jan Rucki radikal umgekrempelt. Motto: «So lebt es sich in Luzern.»
Das grafische Konzept dazu kommt von Gina Burri und Céleste Meylan. Auch inhaltlich ist kein Stein auf dem anderen geblieben: Wo das Edi- torial sonst ist, befindet sich jetzt das Kreuzworträtsel, alles geht rückwärts, selbst im Veranstaltungskalender blättert man von hinten nach vorne. Gefüllt ist das Heft mit einer Reihe von Reportagen und Portraits mit Luzerner Persönlichkeiten, die das Leben abseits von Scheinwerferlicht und Touri-Hotspots prägen, so zum Beispiel Aref Stocker und Izzet Yüksel, die beiden Chefs der «Inseli»-Kebab- bude.
Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.