, 29. März 2015
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Jedem Kind ein Instrument?

Am Montag 30. März referiert Bundesrat Alain Berset in der Lokremise St.Gallen über die Kulturbotschaft des Bundes 2016-20. Sie setzt einen Schwerpunkt in der Jugendmusikförderung. Was wäre da zu tun? Antworten des Wattwiler Jugendorchesterpioniers Hermann Ostendarp im Gespräch mit Bettina Kugler.

In der Kulturbotschaft 2016-20 von Bundesrat Alain Berset liegt einer der Schwerpunkte auf der Jugendmusikförderung. Wo stehen wir derzeit mit dem Angebot an musikalischer Bildung für Kinder und Jugendliche in der Schweiz – auch im Vergleich zu anderen Ländern?

Hermann Ostendarp: In vielen mitteleuropäischen Ländern hat man in den vergangenen vierzig bis fünfzig Jahren versucht, möglichst flächendeckend Musikschulen zu etablieren. Das war eine wichtige Initiative; dadurch haben heute sehr viel mehr Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, ein Instrument zu erlernen, als das früher der Fall war. Die Musikschulen sind ein wichtiger Pfeiler der instrumentalen Praxis. Daneben gab es und gibt es noch immer «Inseln», an denen schon eine Musiktradition vorhanden war, beispielsweise die Singschule in St.Gallen. Oftmals bauen sie auf der Initiative einer Person auf, mit der ihre Erhaltung dann steht und fällt.

Bei den Musikschulen hat man sich lange darauf konzentriert, möglichst viele Schüler zu haben, das war ein Zeichen dafür, dass man alle erreichte. Heute zeigt es sich darin, dass der Grundkurs, die Musikalische Grundschule, obligatorisch ist, in den Kindergarten und die Primarschule integriert. In den letzten Jahren kann man aber eine leicht rückläufige Tendenz bei den Musikschulen feststellen.

Woran liegt das?

Die Eltern sehen das häufig erdrückende Freizeitprogramm ihrer Kinder und kommen zum Schluss, dass sie nicht alles machen können. Zumal es ja nicht damit getan ist, dass das Kind einmal wöchentlich den Instrumentalunterricht besucht; wenn es nicht regelmässig übt, passiert überhaupt nichts an musikalischer Entwicklung. Auch die positiven Nebeneffekte des Instrumentalspiels auf das Gehirn, die ja wissenschaftlich erwiesen sind, stellen sich nur bei einem gewissen zeitlichen Ausmass ein – und nicht, wenn man nur zweimal die Woche zwanzig Minuten übt. Den Wert der Musik an sich schmälert das natürlich nicht.

Musik und der Ensemblegedanke

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Das Jugendorchester Il mosaico aus Wattwil, hier in der St.Galler Tonhalle.

Welche Schlüsse ziehen die Musikschulen und andere Bildungsträger daraus?

Man schaut nicht mehr nur auf Quantität, auf möglichst hohe Schülerzahlen, sondern geht mehr in die Tiefe, zum Beispiel durch das Schwerpunktfach Musik an den Kantonsschulen und mit Talentschulen in der Sekundarstufe. Auf diesem Weg können begabte Schüler gezielter gefördert werden. Neu ist, dass man gerade bei den Streichern verstärkt auch ergänzendes Ensemblespiel fördert, nicht nur den Einzelunterricht, und das möglichst von Anfang an. Diese Tendenz sehe ich weltweit. Vieles lernen die Kinder im Ensemblespiel leichter; sie bringen sich in der Gruppe gegenseitig weiter und motivieren sich zu zielgerichtetem Üben. Der Ensemblegedanke, der später im Orchesterspiel aufgeht, wird in der Schweiz noch an zu wenigen Orten konsequent verfolgt. Schaut man über die Grenze nach Vorarlberg, gibt es dort eine viel stärkere Orchesterkultur an den Musikschulen – auf allen Stufen.

Das dürfte Wasser auf Ihre Mühlen sein, nach 25 Jahren intensiver Orchesterarbeit mit «il mosaico» an der Kanti Wattwil.

Ja, durchaus. Man muss nicht nur den Einzelunterricht im Auge haben, sondern das Umfeld der musikalischen Bildung, also Ensemblespiel, bei dem die Lust am Zusammenspiel gefördert wird, gemeinsame Konzertbesuche mit Gleichaltrigen, das staunende Erleben von Musik, eine umfassende Persönlichkeitsbildung. Dieses Umfeld ist meiner Erfahrung nach wichtiger, als allzu früh viel Theorie vermitteln zu wollen. In der Gruppe öffentliche Generalproben von Berufsorchestern anzuhören, sich anschliessend mit Musikern zu treffen, das prägt und spornt an. Früher war Musizieren Teil der bildungsbürgerlichen Kultur und wurde nur in bestimmten Kreisen gepflegt, einschliesslich der Konzertbesuche. Heute ist die soziale Streuung grösser. Aber oft fehlt der familiäre Hintergrund.

Was versprechen Sie sich von der Verankerung der Musikförderung in der Bundesverfassung?

In erster Linie ein gesteigertes Bewusstsein für den Wert der musikalischen Bildung, dafür, dass Musik wichtig ist und zu einer umfassenden Persönlichkeitsbildung beiträgt. Es schützt hoffentlich künftig vor blinder Sparwut, in der manchmal Dinge wegbrechen, die lange und gezielt aufgebaut worden sind. Im Bildungsbereich haben wir uns an das Sparen ja schon lange gewöhnt; fast ein Viertel der Lektionen sind beispielsweise an den Kantonsschulen in den letzten Jahren verloren gegangen.

Wo könnten denn Bundesgelder sinnvoll für Musikförderung eingesetzt werden? Im Bericht der Arbeitsgruppe, die sich mit der konkreten Umsetzung des Verfassungsartikels befasst hat, werden besonders Ferienkurse und Musiklager hervorgehoben, ein nationales Kompetenzzentrum für «jugend+musik» wird dagegen eher zurückgestuft in der Priorität.

Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, dass Einzelprojekte von «jugend+musik» bislang sehr zurückhaltend gefördert worden sind. Wenn überhaupt, bekommt man einen bescheidenen Teilbetrag, oft werden die Eingabefristen auch sehr rigoros gehandhabt, kurzfristige Projekte haben da überhaupt keine Chance. Aber es geht primär gar nicht so sehr darum, mehr Geld zur Verfügung zu stellen – wichtiger sind meiner Ansicht nach sinnvolle Strukturen für die musikalische Bildung, die ein vertieftes Einlassen auf die Musik ermöglichen.

Ein Hauch von «il sistema»

Die Arbeitsgruppe sieht vor allem Handlungsbedarf bei der Zusammenarbeit zwischen Musikschulen und Vereinen, zwischen Musikschulen und Hochschulen und bei der Lehrerausbildung.

Ja, da gibt es noch einiges zu tun. Über die Musikvereine weiss ich selbst zu wenig; soweit ich sehe, haben sie vielerorts über den Dorfgeist gut funktioniert – so wie «il sistema», das inzwischen weltweit bekannte Jugendorchester-Netz in Venezuela. Aber der gesellschaftliche Wandel macht vor ihnen nicht Halt; die Vereine haben zunehmend Schwierigkeiten, gute Leiter zu finden, und bei den Lehrern der Musikschulen fehlt oft das Verständnis für die traditionelle Blasmusik. Was die Lehrerausbildung angeht, macht sich bemerkbar, dass immer weniger Primarlehrerinnen und -lehrer einen musikalischen Background mitbringen. Während früher an den Lehrerseminaren alle Studierenden im Chor sangen und ein Instrument lernen mussten, gibt es nun Kurse, die nur wenige besuchen. Besonders schade finde ich es, wenn Studierenden, die an der Kanti das Schwerpunktfach Musik hatten, an der PH keine substanzielle Weiterentwicklung ihres Könnens ermöglicht wird. Man müsste sie in Spezialklassen weiter fördern, sagt aber, das sei «aus organisatorischen Gründen nicht möglich». Dies an einer Hochschule! Das ist bedenklich.

Ein weiterer Punkt ist die Chancengleichheit. Die Kulturbotschaft betont, dass «kulturelle Teilhabe» aller Kinder und Jugendlichen angestrebt wird, zum Beispiel über ermässigte Gebühren für Kinder aus Familien, die sich Instrumentalunterricht nicht leisten können. Wären denn Modelle wie «Jedem Kind ein Instrument» im deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen eine Alternative?

Das ist ein Prestigeprojekt der Politik; in der Praxis haben sich viele Probleme gezeigt. Ich halte es für falsch, blind neue Strukturen zu schaffen. Besser ist es, auf Bestehendem aufzubauen, das schon Vorhandene zu verbessern und zu vernetzen. Wenn man weltweit schaut, wie Kinder an Musik herangeführt werden, sieht man, dass ganz unterschiedliche Wege Erfolg haben können. Aber sie müssen zu den Menschen passen und der kulturellen Tradition an diesem Ort entsprechen. Wir haben hier eine enorme Vielfalt: zum Beispiel eine lebendige Brass-Szene im Wallis, eine ungemein reiche Chortradition im Bündnerland, hervorragende Bläser in der Innerschweiz; die Vereine haben über lange Zeit wesentlich dazu beigetragen. Das muss man erhalten und unterstützen.

Es geht nicht bloss um Karriere

Woran liegt es, dass mehr als die Hälfte der Studierenden an Schweizer Musikhochschulen aus dem Ausland kommen? Hat das mit einer unzureichenden Begabtenförderung in der Schweiz zu tun?

Es stimmt nicht, dass Bewerber aus der Schweiz keine Chancen haben, auch wenn unsere musikalische Ausbildung nicht so stark auf diszipliniertes Üben schon im Kindesalter basiert. Es gibt einfach sehr viele Studienplätze für Musik in der Schweiz, das hat mit dem Föderalismus zu tun – man hat die einzelnen Hochschulen in den letzten Jahrzehnten stark ausgebaut, statt zu überlegen, wie viele Studienplätze schweizweit wirklich gebraucht werden. Da werden meiner Ansicht nach viele Ressourcen verschwendet. Um die vorhandenen Plätze zu besetzen, wirbt man im Ausland für das Studium an Schweizer Musikhochschulen. Von unseren Toggenburger Schülerinnen und Schülern, die Musik studieren wollten und die aus meiner Sicht auch das Potenzial dazu mitbrachten, haben alle die Aufnahmeprüfung geschafft und das Studium mit gutem Erfolg abgeschlossen.

Die Frage ist für mich ohnehin nicht, wie Musiker mit 16 oder 18 Jahren spielen, sondern als welche Person sie mit dreissig Jahren in der Welt stehen. Viele denken, dass sie möglichst schnell möglichst viel auf dem Instrument lernen müssen, um Karriere zu machen. Da bin ich skeptisch.

ostendarpHermann Ostendarp ist Leiter der Musikabteilung der Kantonsschule Wattwil und Gründer des Jugendorchesters «il mosaico».

Zur Debatte: «Kultur?? Kultur!!», Referat von Bundesrat Alain Berset und Podium zur regionalen Kulturpolitik: Montag 30. März, 19 Uhr, Lokremise St.Gallen

 

Der Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.

1 Kommentar zu Jedem Kind ein Instrument?

  • Gonçalo Crespo sagt:

    Toller Artikel und einen richtig spannendes Thema. Meine Meinung nach sollte nicht nur jeden Kind von sehr früh einen Instrument in der Hand haben, aber auch die Möglichkeit auf Unterricht zu haben. Denn nur das Instrument zu haben ist nur Hälfte davon

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