«Jede Wohnung, die der Spekulation entzogen wird, hat Wirkung»

Saiten: Täuscht der Eindruck oder kommt tatsächlich etwas Leben in die Wohnbaugenossenschaftsszene in der Ostschweiz? Findet gar ein Generationenwechsel statt?
Jacques Michel Conrad: Man kann durchaus von einem Generationenwechsel sprechen. Das hat mit bestimmten Projekten zu tun, wie zum Beispiel mit REM3, wo sich junge Leute um gemeinnützigen Wohnungsbau kümmern. Mein grosser Wunsch ist, dass sich diese Leute auch in bestehenden Genossenschaften einbringen. Mit ein Grund, warum ich Max für ein Engagement bei der Wohnbaugenossenschaft (WBG) St.Gallen motiviert habe.
Max Altherr: Mit REM3 geht es uns nicht primär ums Visionäre und Innovative, sondern schlicht ums Umsetzen dessen, wovon wir überzeugt sind. REM3 ist vielleicht verglichen mit anderen Projekten in der Region innovativ, aber im Grunde ist es schlicht zeitgemässe Raumplanung und Architektur.
War die Szene vorher etwas eingeschlafen?
JMC: So negativ würde ich es nicht formulieren. Den Grundstein für Wohnbaugenossenschaften hat vor einem Jahrhundert das Bundespersonal gelegt. Danach haben die Genossenschaften im Wesentlichen ihren Bestand gepflegt. Wachstum, um die Vorteile des genossenschaftlich-gemeinnützigen Wohnungsbaus auch anderen zugänglich zu machen, war nicht ihr Ziel. Später wurde der gemeinnützige Wohnungsbau in der Ostschweiz eigentlich immer von einzelnen Überzeugungstäter:innen vorangetrieben, die der Ansicht waren, dass man die Sache frühzeitig angehen müsse, um den Standortvorteil bezahlbarer Mieten für die Stadt langfristig sichern zu können.
Ab wann gab es diese «Einzeltäter:innen»?
JMC: Die gab es eigentlich immer. In den 80er- und 90er-Jahren gab es einen Schub, da unter dem damals geltenden Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetz mit wenig Eigenmitteln gebaut werden konnte. Leider stand nicht bei allen Akteuren der Gemeinnutz im Vordergrund. Es gab Misswirtschaft und Konkurse. Das hat der Branche auch geschadet.
MA: Die SP hat in den 80ern schon mehr bezahlbaren Wohnraum gefordert. Die Stadt hat darauf reagiert und in der Remishueb Land im Baurecht abgegeben. So laufen die Genossenschaftszyklen: Zuerst ist da viel Esprit, im Laufe der Jahre geht einem dann die Energie aus.
Was läuft nebst REM3 bei den Genossenschaften? Wird gebaut?
MA: In Lichtensteig hat die Genossenschaft Freudenau ein partizipatives und regeneratives Projekt lanciert. Und in Arbon gibt es zum Beispiel eine Genossenschaft, die sich von unten organisiert hat. Sie realisieren auf dem Ziegelhüttenareal ein Neubauprojekt.
JMC: Wenn die günstige Wohnung im dritten Stock ohne Lift im Alter nicht mehr funktioniert, sind Personen mit bescheidenen Einkommen respektive Renten weiterhin auf bezahlbaren Wohnraum angewiesen. Die demografische Entwicklung verschärft dieses Problem. Die Alters- und Wohngenossenschaft Logiscasa stellt sich der Herausforderung. An drei Standorten hat sie 89 erschwingliche Wohnungen realisiert. Im Riethüsli sind 44 weitere im Bau. Damit möglichst viel Wohnraum der Marktspekulation und damit überrissenen Mietzinserhöhungen entzogen werden kann, müssen wir aber auch über bereits bestehende Wohnbauten, deren Übernahme durch gemeinnützige und sozialverträgliche Sanierungen reden. Die Genossenschaften positionieren sich da unterschiedlich.
Früher waren es das Bundespersonal oder die Gewerkschaften, die genossenschaftlich bauten. Sind altersgerechte Wohnbauten heute im Trend bei den Genossenschaften? An wen richtet sich der gemeinnützige Wohnungsbau heute?
MA: Er soll allen nützen – deshalb reden wir ja von gemeinnützig. In der Ostschweiz geht es vorrangig darum, mehr Genossenschaftswohnungen zu bauen oder zu kaufen. Was Projekte im qualitativ und preislich etwas hochwertigeren Segment nicht per se ausschliesst.
JMC: Gemeinnütziger Wohnungsbau macht auch volkswirtschaftlich Sinn. Heute müssen etwa 20 Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte ihres Einkommens fürs Wohnen aufwenden. Das ist demokratiepolitisch heikel: Wenn die Leute nach den Mieten, der Krankenkasse und Bildungskosten ein leeres Portemonnaie haben, laufen sie gerne politischen Demagogen und Rattenfängern hinterher, die vorgeben, in ihrem Interesse zu handeln, aber letztlich nur Klientelpolitik betreiben. Demokratie funktioniert nur, wenn die Güter gerecht verteilt sind und die Leute sich das Leben leisten können. Und deshalb besteht unsere Aufgabe eben nicht nur im Bauen, sondern auch in sozialverträglichen Bestandssanierungen – eine riesige Herausforderung.
Ist genossenschaftlich-gemeinnütziger Wohnungsbau nicht auch eine Privilegierung der darin Wohnenden?
JMC: Genossenschaftlich-gemeinnütziger Wohnungsbau ist der dritte Weg neben Eigentum und Miete. Wenn die Genossenschaft erfolgreich wirtschaftet, sollen die Mitglieder vom guten Preis-Leistungsverhältnis profitieren. Damit mehr Menschen in den Genuss fairer Mieten kommen, müssen wir wachsen wollen.
Wie erhält man die Anerkennung der Gemeinnützigkeit beim Bund?
JMC: Es gibt einen ganzen Anforderungskatalog vom Bundesamt für Wohnungswesen (BWO). Zum Beispiel dürfen keine Gewinne abgeschöpft und keine übertriebenen Dividenden ausbezahlt werden. Das Geld muss im System bleiben. Bei einer allfälligen Auflösung muss das Vermögen an eine andere gemeinnützige Organisation mit vergleich- barem Zweck weitergegeben werden.
MA: Im Musterbaurechtsvertrag vom BWO wird zudem die Kostenmiete empfohlen. Das heisst, grob gesagt, die Mieten dürfen nicht mehr Ertrag abwerfen, als für den langfristigen Unterhalt einer Liegenschaft benötigt wird.
Manchmal hört man den Vorwurf, dass wohlhabende Menschen in günstigen Genossenschaftswohnungen leben. Oder dass sie zu grosse Wohnungen belegen und damit einkommensschwächeren Familien den Platz wegnehmen. Wie geht ihr mit diesem Problem um?
JMC: Das Problem existiert so nicht. Eine Person, die früher in eine Genossenschaftswohnung eingezogen ist und irgendwann im Leben das Glück hatte, gutes Geld zu verdienen, muss deswegen meiner Ansicht nach nicht ausziehen. Wir wollen durchmischte Bewohnergruppen. Mit steigenden Einkommen steigen oft auch die Ansprüche und die Leute ziehen weiter. Entscheidend sind die Belegungsvorschriften der Genossenschaften: Wie viele Zimmer müssen mit mindestens wie vielen Personen belegt sein. Wer solche Regeln anwendet, bekommt vom Bund auch etwas mehr Förderung. Die Genossenschaften, die ich kenne, vermieten keine 4,5-Zimmerwohnungen an Einzelpersonen, wenn sich auch Familien bewerben. Nur wenn ein Leerstand droht, bekommen auch Einzelpersonen eine solche Wohnung.
MA: Die Belegungsvorschriften sind ein grosses Politikum. Das beschäftigt die Leute auch bei REM3 am meisten. Die Faustregel lautet: Anzahl Räume minus eins gleich Anzahl Personen, die mindestens in der Wohnung leben sollten. Wir formulieren gerade unsere «Belegungsvorstellungen» und explizit nicht «-vorschriften». Was passiert zum Beispiel in einem Mehrgenerationenprojekt mit verbindlichen Vorschriften, wenn in einer 3-Zimmerwohnung eine Person stirbt? Verliert die hinterbliebene Person dann gleich noch ihre Wohnung? Belegungsvorschriften kannst du nur machen, wenn du grosszügige Übergangsfristen gewährst oder selber Alternativen im ähnlichen Preissegment und im vergleichbaren sozialen Milieu anbieten kannst.
JMC: Darum funktionieren grosse Genossenschaften wesentlich besser als kleine. Wenn ich einem Paar, dessen Kinder ausgezogen sind, sieben einigermassen vernünftige Alternativen bieten kann, hilft das in Verhandlungen, damit die grosse Wohnung für Familien mit mehr Platzbedarf freigegeben wird. Auch bei Totalsanierungen spielt die Genossenschaftsgrösse eine zentrale Rolle. Wenn ich ein Haus mit 20 Parteien totalsanieren und das Haus leerkündigen muss, weils nicht anders geht, und ich habe 1000 Wohnungen in der Stadt in meinem Bestand, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass für alle eine sozialverträgliche Nachfolgelösung gefunden werden kann.
Aktuell sind in der Stadt St.Gallen 37 Genossenschaften unter dem Verbandsdach. Sind das noch zu viele?
JMC: Wenn alle wachsen, nicht.
Aber damit es sich lohnt, müssten alle über 1000 Wohnungen verfügen?
JMC: Das ist vielleicht etwas übertrieben formuliert …
MA: Kannst du bitte einfach «Ja» sagen?
JMC: Nein, ich will nicht einfach alle Kleinen zusammenramisieren, damit ich 1000 Wohnungen habe. Ich sage nur: Eine kleine Genossenschaft, die lange gut funktioniert hat, bekommt irgendwann Probleme, spätestens wenn eine Totalsanierung ansteht. Was passiert dann mit den Mieter:innen? Wir können uns nicht nur um die Häuser kümmern, es muss uns um die Menschen gehen, die darin wohnen. Um zu wachsen, sind wir aber auch auf Leute angewiesen, die nicht zwingend bei uns wohnen, aber unsere Idee finanziell unterstützen.
Solche Leute findet man?
JMC: Ja. Das Zinsumfeld hat uns geholfen. Genossenschaften können für Anteile und Darlehen einen Zins ausrichten. Man orientiert sich am Referenzzinssatz. Und wenn man ein bisschen schneller wachsen und mehr Liegenschaften der Spekulation entziehen will, muss man vielleicht einmal 2 Prozent plus bezahlen. So kommt man durchaus an Geld, um gemeinnützige Projekte zu finanzieren.
Das sind Private?
JMC: Ja, aber es gibt eine Obergrenze. Bei der WBG St.Gallen kann man sich mit maximal 150’000 Franken beteiligen. Damit vermeiden wir Klumpenrisiken.

Jacques Michel Conrad: «Es gibt Genossenschaften, die den klassischen Siedlungsgedanken höher gewichten. Das ist auch wertvoll. Aber unsere zentralste Aufgabe muss es sein, Wohnungen mit Kostenmiete anzubieten.»
Wie wirkungsvoll ist es denn, wenn eine Genossenschaft immer wieder kleine Einzelliegenschaften mit wenig Wohnungen dem freien Markt und der Spekulation entzieht, zum Beispiel in einem Quartier wie Rotmonten, wo die WBG ein älteres Mehrfamilienhaus gekauft hat und nun totalsaniert?
JMC: Man muss nehmen, was man bekommt. Jede Wohnung, die der Spekulation entzogen wird, hat Wirkung. Wenn ich zehn Häuser à fünf Wohnungen kaufe, habe ich am Schluss auch eine Siedlung, nur dass die Häuser nicht nebeneinander stehen. Es gibt Genossenschaften, die den klassischen Siedlungsgedanken höher gewichten. Das ist auch wertvoll. Aber unsere zentralste Aufgabe muss es sein, Wohnungen mit Kostenmiete anzubieten. Es gibt einige Genossenschaften mit über 100 Wohnungen und gut gefüllten Kassen, die bei einem entsprechenden Angebot auch mal ein teureres Haus kaufen könnten.
Wer zum Beispiel?
JMC: Zum Beispiel haben die Eisenbahner im Schoren-Quartier vor einiger Zeit eine angrenzende Liegenschaft gekauft. Die Bawo (Bau- und Wohngenossenschaft St.Gallen, Anm. d. Red.), die lange Zeit die grösste Genossenschaft in St.Gallen war, hat kürzlich in der Altstadt eine Liegenschaft gekauft. Solche Engagements freuen mich sehr. Hier spielt die Professionalisierung eine Rolle: Es braucht Leute, die für die Genossenschaften den Markt beobachten. Der Markt ist schnell, da musst du manchmal innerhalb einer Woche ein Angebot unterbreiten können. Das können ehrenamtliche Gremien kaum leisten.
MA: Ich glaube, wir müssen uns vom stereotypen Bild der Genossenschaft befreien. Man denkt immer gleich an die Kalkbreite in Zürich oder andere innovative Projekte mit ganz viel gemeinschaftlichen Aktivitäten. Für mich ist entscheidend, dass wir in der Ostschweiz die Masse an Genossenschaftswohnungen hinbekommen, damit wir nicht gelähmt sind, wenn das Zinsumfeld einmal nicht mehr so sexy ist, es weniger Leerstand gibt und die Mieten steigen.
Wie können Genossenschaften angesichts steigender Bodenpreise auch in Zukunft noch günstigen Wohnraum anbieten?
JMC: Boden bezahlen zu können, um neu zu bauen oder Bestand zu sanieren, ist eine grosse Herausforderung, gerade für junge Genossenschaften. Eine Lösung sind Baurechtsversträge mit der öffentlichen Hand. Die Gemeinden müssten dafür eine aktive Bodenpolitik betreiben und Häuser und Bauland kaufen und im Baurecht zu günstigen Bedingungen weitergeben. Eine solche Bodenpolitik müsste im ureigensten Interesse der öffentlichen Hand, aber auch des Gewerbes sein, denn es ist auch konjunkturell matchentscheidend, wie viel Geld die Leute Ende Monat nach Abzug der Lebenshaltungskosten für den Konsum zur Verfügung haben.
Wie liefen die Verhandlungen mit der Stadt, zum Beispiel im Fall von REM3?
MA: Die Verhandlung lief gut, da wir mit unserem Vorschlag die städtische Wohnraumstrategie umsetzen und das Grund- stück in kooperativer Planung entwickeln. Das Quartier ist bereits genossenschaftlich geprägt. Die Stadt hat nicht mehr viel Land, und dieses gibt sie leider nicht immer an Gemeinnützige ab. Oder dann zu Konditionen, die von den Empfehlungen des BWO abweichen. Der Grossteil des städtischen Bodens gehört Privaten und institutionellen Eigentümer:innen. Auch die Ortsbürgergemeinde St. Gallen (OBG) gibt im Stephanshorn Boden im Baurecht zu Bedingungen ab, die sich gemeinnützige Wohnbauträger:innen nicht leisten können.
JMC: Leider wird immer mehr salonfähig, dass mit Baurechten möglichst viel Geld verdient werden soll. Dann wird der Wert des Bodens alle fünf Jahre neu geschätzt und der Baurechtsvertrag entsprechend angepasst. Das schlägt auf die Mieten durch und hat mit Gemeinnützigkeit nichts mehr zu tun. Auf solche Baurechtsangebote bewerben wir uns gar nicht erst. Spekulative Elemente haben in einem gemeinnützigen Baurechtsvertrag nichts verloren.
Wem gehört heute der Boden, auf dem die St. Galler Genossenschaften Wohnungen vermieten?
JMC: Das ist sehr unterschiedlich. Die Bawo zum Beispiel hat fast nur eigenen Boden. Sie hat meines Wissens sogar einmal Baurechtsland von der Ortsbürgergemeinde Straubenzell erwerben können. Bei der WBG St.Gallen ist das Verhältnis Baurecht-Eigenbesitz etwa halbe-halbe. Die Häuser der Baugenossenschaft für schönes Wohnen beispielsweise stehen zu 100 Prozent auf Baurechtsland.
Die Ortsbürgergemeinde sagt, sie passe ihre Baurechtszinsen an, weil sie ihre sozialen Institutionen – die Altersheime und das Bürgerspital – finanzieren müsse.
JMC: Wenn ich zurückschaue, zum Beispiel auf die Ortsgemeinde Straubenzell, heute vereinigt mit der OBG St.Gallen, dann gabs damals mustergültige Baurechtsverträge für gemeinnützigen Wohnbau. Spannend wirds bei Liegenschaften, bei denen in 20 oder 25 Jahren das Baurecht ausläuft und der sogenannte Heimfall ansteht. Dann stellt sich die Frage, ob ein Baurecht zu tragbaren Bedingungen verlängert wird oder ob die Baurechtgeberin das Haus, das auf ihrem Land steht, in den eigenen Bestand aufnehmen will. Wie sie sich da künftig aufstellt, weiss die OBG anscheinend selber noch nicht. Wir sind dazu im Austausch und hoffen natürlich, dass wir gute Resultate im Sinne des gemeinnützigen Wohnungsbaus erreichen können.
Musstet ihr für REM3 über die Baurechtszinsen verhandeln?
MA: Wir hätten gerne verhandelt, aber uns wurde klargemacht, dass es dafür kaum Spielraum gebe. Die Zinsen sind gemäss stadtinterner Praxis fest und für alle gleich. Für das Land in der Wohnzone W3 wurde ein Verkehrswert von 1050 Franken pro Quadratmeter geschätzt. In einem Nebensatz wurde in der Schätzung erwähnt, dass man angesichts der grossen Nachfrage dafür auf dem Markt auch 1300 oder 1400 Franken bekäme. Dem waren wir ausgesetzt, weil wir uns gegründet haben, um genau an diesem Ort zu bauen. Die Stadt gewährte aber eine Reduktion auf den Landwert aufgrund unserer Gemeinnützigkeit. Dennoch weichen wir bei praktisch allen Parametern von den Empfehlungen des Bundes für gemeinnützige Baurechtsverträge der öffentlichen Hand ab.
Da ist auch eine Kritik rauszuhören an die Grundbesitzer:innen – sei es Stadt oder Ortsbürgergemeinde, die sich nicht an die Empfehlungen des Bundes halten.
JMC: Ich spüre seitens Stadt, dass ihr Interesse am Thema wieder zunimmt und ihr der gemeinnützige Wohnungsbau ein echtes Anliegen ist.
Hat das auch mit Einzelpersonen in Politik und Verwaltung zu tun?
JMC: Kommt es zu personellen Veränderungen, beginnen die Verhandlungen immer wieder von Neuem. Die intensiven Diskussionen in den letzten Jahren haben gefruchtet. Aber die Stadt hat nach wie vor und fälschlicherweise das Gefühl, ihre finanzielle Schieflage auch via Baurechtszinsen verbessern zu müssen. Ökonomisch schlau wäre ein anderer Weg: möglichst viel Baurecht mit moderaten Erträgen vergeben, damit Menschen in der Stadt wohnen können. Kurzfristig mit Baurecht Geld verdienen zu wollen ist, gesamtwirtschaftlich betrachtet, Unsinn.
Darum fordert ihr von der Stadt eine aktivere Bodenpolitik?
JMC: Stellen wir uns einmal vor, die Stadt hätte vor 30 Jahren alles gekauft, was in einem einigermassen vernünftigen Rahmen zu haben gewesen wäre. Dann wäre sie heute die grosse Gewinnerin. Von den Preissteigerungen der letzten Jahre hätte die Stadtkasse enorm profitiert. Aber sie hätte die Gewinne natürlich nicht realisiert, weil die Stadt ja keine Spekulantin ist. Es gab aber schon immer politische Kreise, die der Stadt signalisierten, sie habe auf dem Liegenschaftenmarkt nichts verloren. Das überrascht wenig, weil dieser Markt interessant ist und viele dort leistungsfrei ihre Renditen abholen. Da sind zusätzliche Player, die den Markt etwas regulieren, natürlich nicht gern gesehen. Aber der Markt regelt im Wohnbereich gar nichts. Menschen müssen zum Beispiel aus Zürich, aus dem Kanton Zug oder den Hotspots in Graubünden wegziehen, weil sie sich dort keine Wohnung mehr leisten können. Die Politik hat zu lange zugeschaut.
MA: In den Verhandlungen mit der Stadt taucht immer wieder das Argument auf, es gebe eine politische Vorgabe, dass mit diesen Baurechtsverträgen eine gewisse Rendite erwirtschaftet werden muss. Die Baurechtsverträge werden im städtischen Finanzvermögen geführt und nicht im Verwaltungsvermögen, wo sie vom Renditezwang befreit wären. Die Stadt Zürich macht das schon lange anders als St.Gallen. Dafür bräuchte es aber eine rechtliche Grundlage und einen politischen Entscheid. Als Verband sind wir darüber mit der Politik im Gespräch.

Max Altherr: «Ich will nicht alles schlechtreden. Es hat sich viel getan in der städtischen Verwaltung.»
Man hätte seit acht Jahren politische Mehrheiten im Stadtparlament, die so etwas unterstützen würden, müsste man meinen.
MA: Müsste man meinen, ja.
JMC: Ja und nein. Ich musste es auch zuerst lernen: Für jene Menschen, die sich in Ämter wählen lassen und hier Lokalpolitik betreiben, ist das Thema Wohnen in aller Regel kein grosses Problem. Und wo es wenig Betroffenheit gibt, mangelt es häufig auch an Engagement. In Zürich, Basel oder Genf ist Wohnen bis weit in die obere Mittelschicht ein Thema, bei uns war dies lange Zeit nicht der Fall. Darum hat sich die Mittelschicht auch nicht darum gekümmert und sich auch nicht das erforderliche Wissen angeeignet. Und darum gehen planungsrechtliche Entscheide durchs Stadtparlament, ohne dass jemand zum Beispiel sagt: Ja, wir zonen auf, aber nur, wenn darauf zu mindestens 50 Prozent gemeinnützige Bauten erstellt werden.
MA: Im Stephanshorn hat man eine solche Chance verpasst. Dort hat man das Areal für die Ortsbürgergemeinde aufgezont. Aber man hat keine Vorgaben gemacht, wie dort gebaut werden soll. Das Problem ist: Bis 2027 muss die städtische Ortsplanung revidiert sein. Man hat in diesem Fall eine Teilzonenplanänderung vorgezogen, was ich schon mal grundsätzlich sehr kritisch sehe, weil eine Gesamtschau fehlt, wenn man nur ein einzelnes Grundstück betrachtet. Und ab 2027 muss es einen Mehrwertausgleich geben: Wenn durch eine Aufzonung Gewinne anfallen, kann ein Teil des Mehrwerts abgeschöpft und für raumplanerische Massnahmen genutzt werden. Beim Stephanshorn-Areal hat das im Stadtparlament niemand verlangt.
Das klingt alles sehr technisch. Sind die Parlamentarier:innen bei solchen Themen überfordert?
MA: Es gibt im Parlament aus meiner Sicht zu wenig Fachleute für solche Themen. Und wenn es sie gibt, müssen sie in den Ausstand treten, da sie selbst in die Planung involviert waren. Jetzt wird der Mehrwert hälftig zwischen Stadt und Ortsbürgergemeinde aufgeteilt. Die Ortsbürger reiben sich die Hände und die Stadt kommt auf diese Weise an nicht zweckgebundene Gelder, die meiner Meinung nach ganz klar für raumplanerische Massnahmen genutzt werden müssten. Das ist eine verpasste Chance. Hier hätte man die Möglichkeit gehabt, diese Teilzonenplanänderung zwar vorzuziehen, aber gleichzeitig auch noch einen Teil der städtischen Wohnraumstrategie umzusetzen, indem man Mindestvorgaben für gemeinnützigen Wohnungsbau auf dem Areal gemacht hätte.
Gibt es auch Positives aus der Stadt zu vermelden?
JMC: Auf jeden Fall! Das Beispiel Heimstrasse. Dort sollen neben dem Einkaufszentrum Lerchenfeld 70 bis 100 neue Wohnungen entstehen. Die Stadt hat das Areal nur für gemeinnützige Wohnbauträger ausgeschrieben. Das verdient Anerkennung. Wenn man dort noch Baurechtsverträge bekäme, die den Empfehlungen des Bundes entsprechen würden, wäre alles perfekt. Es geht aber auch so. Wir kommen dort mit Mittelstandspreisen auf den Wohnungsmarkt. In 50 Jahren sind das dann preiswerte Wohnungen, weil sie der Spekulation entzogen sind und weil es nicht dauernd zu Handänderungen mit Mietzinsaufschlägen kommt.
MA: Ich will auch nicht alles schlechtreden. Es hat sich viel getan in der Verwaltung. Man sucht das Gespräch mit uns, wir werden eingeladen, es gibt ein gegenseitiges Verständnis. Die Stadt hat den Stellenwert der Genossenschaften in ihrer Wohnraumstrategie festgeschrieben, auch wenn dies zu Widersprüchen mit der Liegenschaftenstrategie führt.
Welche Vorstellungen vom Anteil an gemeinnützigen Wohnbauten hat die Stadt in ihrer Wohnbaustrategie?
MA: Genaue Zahlen dazu gibt es leider nicht. Ein konkretes Ziel wie in Zürich, wo 30 Prozent angestrebt werden, täte aber Not.
JMC: In der Strategie ist zumindest erwähnt, den Anteil erhöhen zu wollen, und es wird ein Rahmenkredit genannt, den man sich geben lassen will, um auf dem Markt handlungsfähiger zu werden. Nicht dass, wie aktuell, immer zuerst die Liegenschaften- und Baukommission und oft auch das Parlament über einen Grundstückkauf entscheiden müssen. Ich finde, die Stadt sollte hierfür einen gehörigen Rahmenkredit erhalten, damit sie im äusserst schnelllebigen Markt flexibel Liegenschaften kaufen und im Baurecht an Gemeinnützige abgeben kann. (UPDATE: Das Stadtparlament hat an seiner Sitzung vom 29. Oktober 2024 – nach Redaktionsschluss zu diesem Interview – einen entsprechenden Rahmenkredit von 1 auf 10 Millionen Franken erhöht. Anm. d. Red.)
Die Stadt soll für die Gemeinnützigen also eine Zwischenfinanzierung sicherstellen?
JMC: Die Stadt kommt auf den Kapitalmärkten viel günstiger zu Geld als Private. Wenn sie die eingesetzten Mittel zum Referenzzinssatz via Baurecht an uns weitergibt, dann verdient sie dabei. Hier fehlt ihr der Mut. Aber: Lange fehlte auch bei den Genossenschaften der Mut, offensiver zu operieren. Inzwischen gibt es wieder Beispiele, die Freude machen. Die Stadt hat von einer Pensionskasse eine Liegenschaft zu einem fairen Preis erworben und diese den St.Galler Genossenschaften im Baurecht angeboten. Letztere haben sich auf die WBG St.Gallen als Baurechtnehmerin geeinigt.
MA: Es fehlt aber auch an Fachwissen. Im Riethüsli hat sich die Stadt gewünscht, dass die Genossenschaften die Zentrumsentwicklung im Quartier mittragen, hat aber nicht begriffen, welche Parameter dafür ins Baurecht gehören, damit Genossenschaften überhaupt dazu in der Lage sind. Ich denke, sie hat daraus gelernt.
Konkurrenziert es die Genossenschaften, wenn die Stadt ihren eigenen Liegenschaftenbestand bis 2030 um 10 Prozent erhöhen möchte?
JMC: Wenn sie es gut anstellt, ist das kein Problem. Ob sie oder wir eine Liegenschaft der Spekulation entziehen und nachhaltig bewirtschaften, spielt letztlich keine Rolle. Genossenschaften können in der Regel aber schneller reagieren. Die Stadt muss das Baurecht auch als Hebel begreifen, mit dem sie den generellen Umgang mit Menschen und Liegenschaften beeinflussen kann. Sie kann Auflagen im Sinne ihrer Strategien machen, sollte im Gegenzug jedoch das Land günstiger abgeben.
MA: Das war das Thema meiner Masterarbeit. Das Baurecht ist der Hebel Nummer eins für die Stadtentwicklung, weil die Stadt nicht alles selber bauen kann. Die Instrumente sind da, die Stadt weiss, wo und wie sie sich entwickeln will. Also soll sie strategisch Land kaufen und dieses im Baurecht abgeben. Hier geht es um mehr kooperative Planung der Stadt zusammen mit den Genossenschaften.
Bei der Politik tut sich also allmählich was. Wo müssen sich denn die Genossenschaften noch bewegen?
JMC: Die Genossenschaften müssen wachsen wollen und das, was sie haben, mehr Menschen zugänglich machen. Dafür brauchts professionelle Strukturen, denn Miet- und Baurecht sind komplizierte Felder. Und auch die Mieter:innen werden anspruchsvoller. Dafür brauchts bezahlte Profis.
Wie kann die Professionalisierung gelingen?
JMC: Ehrenamtlichkeit stösst an die Grenzen. Gute Arbeit hat ihren Preis. Es braucht genossenschaftsspezifisches Know-how. Kleinere Genossenschaften sollten sich zusammentun, um allenfalls eine gemeinsame Geschäftsstelle zu betreiben. So wie wir das bei der WBG und der Logiscasa machen. Es braucht eine Art Kompetenzzentrum für gemeinnützigen Wohnungsbau.
Welche Funktion übernimmt der Verband?
JMC: Der Verband ist ein Gefäss, wo man sich trifft und austauscht. Mitglieder können sich beraten lassen. Zwei Stunden im Jahr gratis. Er hat die Zusammenarbeit unter den Genossenschaften wesentlich verbessert. Aber der Verband ist keine Verwaltung.
MA: Der Verband kann und wird sich strategisch und politisch stärker engagieren, mehr lobbyieren. Damit es auch in Zukunft genug bezahlbaren Wohnraum in St.Gallen gibt.
Jacques Michel Conrad, 1956, war 30 Jahre lang Oberstufenlehrer. Mitte der 1990er-Jahre begann er sich für den gemeinnützigen Wohnbau zu engagieren. Damals hat er mit seiner Frau Daniela Weber Conrad die Weber Verwaltungen AG gegründet, die sich vorwiegend um die Geschäftsführung von Wohnbaugenossenschaften kümmert. Conrad war lange Verwaltungsratsmitglied der Wohnbaugenossenschaft St.Gallen. Bei ihr sowie beim Verband Wohnbaugenossenschaften Ostschweiz, dem Regionalverband von Wohnbaugenossenschaften Schweiz, ist er Geschäftsführer.
Max Altherr, 1992, hat einen Master in Raumplanung und Landschaftsarchitektur, hat sich mit der Büro A GmbH selbständig gemacht und lehrt an der OST im Bachelorstudiengang Stadt-, Verkehrs- und Raumplanung. Altherr ist Mitinitiant und Präsident des genossenschaftlichen Wohnbauprojekts Remishueb 3 im St.Galler Remishueb-Quartier. Zudem folgte er 2023 auf Jacques Michel Conrad in den Verwaltungsrat der Wohnbaugenossenschaft St.Gallen.
Zahlen & Fakten
Dem Regionalverband Wohnbaugenossenschaften Ostschweiz sind 172 Wohnbaugenossenschaften und andere gemeinnützige Wohnbauträger:innen aus den Kantonen St. Gallen, Thurgau, Glarus, Graubünden und beiden Appenzell angeschlossen. Ihr Bestand umfasst rund 9300 Wohnungen. Wer im Verband Mitglied werden will, muss sich die Gemeinnützigkeit vom Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) bescheinigen lassen.
Allein in der Stadt St. Gallen vertritt der Verband gemäss eigenen Angaben 37 gemeinnützige Genossenschaften und Stiftungen mit insgesamt 3722 Wohnungen. Wie viele davon vom Bund als «gemeinnützig» anerkannt und entsprechend gefördert werden, ist nicht bekannt. Das BWO weist in seiner Statistik von 2022 für die Stadt St. Gallen 3922 gemeinnützige Wohnungen aus.
Gemäss ihrer Wohnraumstrategie will die Stadt den gemeinnützigen Wohnbau fördern und Zonen für günstigen Wohnraum ausweisen. Sie unterstützt grundsätzlich die Behauptung, dass der gemeinnützige Wohnbau in St. Gallen noch zu wenig etabliert ist und will künftig städtisches Bauland im Baurecht grossmehrheitlich nur noch an gemeinnützige Bauträger:innen wie Genossenschaften, Stiftungen oder Private abgeben, die das Prinzip der Kostenmiete befolgen. Allerdings hält sich die Stadt in ihren Baurechtsverträgen nicht an alle Empfehlungen des BWO, was aus Sicht der Wohnbaugenossenschaften aber wünschenswert wäre.
Anteil gemeinnütziger Wohnungen am Gesamtwohnungsbestand gemäss BWO-Statistik 2022 in ausgewählten Städten/Gemeinden:
St. Gallen 8,7 %
Chur 4,7 %
Rapperswil-Jona 4,5 %
Herisau 4,2 %
Appenzell 2,8 %
Wil 2,8 %
——————————-
Zürich 20 %
Biel 14,5 %
Luzern 12,4 %
Winterthur 11,5 %
Basel 10,1 %
Bern 9,1 %