, 26. Mai 2017
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Jack und die Bohnenranke

Sie umfasst 12‘000 Jahre Menschheitsgeschichte, erzählt von biologischen Pflanzenzüchtern und prangert Agrochemiekonzerne an: In der Orangerie des Botanischen Gartens St.Gallen zeigt Public Eye eine Ausstellung über Licht und Schatten der Saatgutproduktion.

Gut hundert Besucher hörten sich am Mittwochabend die Eröffnungsreden an, lauschten den Akkordeonklängen, nahmen an Kurzführungen teil und unterhielten sich beim Apero angeregt. Die Ostschweizer Regionalgruppe von Public Eye (ehemals Erklärung von Bern) hatte zusammen mit dem Botanischen Garten zur Vernissage der Saatgut-Ausstellung eingeladen.

Die Idylle täuschte jedoch nicht über den Ernst des Themas der Ausstellung hinweg. Ein Begleittext  zitiert Jean Ziegler: Täglich sterben 57‘000 Menschen an Hunger, eine Milliarde ist schwer unterernährt, und das auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Aber Ziegler sagt auch, dass man nicht nur zornig über die ungerechte Verteilung des Reichtums sein soll, sondern auch glücklich geniessen soll, damit man klar denken und wirksam kämpfen kann.

Vielfältig und vielschichtig

Mitten in der Halle der Orangerie schwebt eine Erdkugel, ein blauer Planet mit Wolken in der Atmosphäre. In einem ausgeklügelten Evaluationsverfahren fand die St.Galler Ausstellungsgruppe in Shanghai in China eine Hüpfburgenfabrik, der sie den Auftrag erteilte. Diese machte zwar nicht das billigste Angebot für den aufblasbaren Globus, aber sie konnte mit einer Dokumentation faire Anstellungsbedingungen ihrer Angestellten belegen.

Professionelle Ausstellungsmacher würden wohl kaum so vorgehen, die Public Eye-Gruppe ist aber aus ethischen Grundsätzen dazu verpflichtet. In Sachen Ausstellungsgestaltung besteht sie aus lauter Laien, einzig für die Übermittlung der Texte an die Schrifttafelfirma half den Aktivisten eine Grafikerin.

Die generationenübergreifende Gruppe leistete unzählige Stunden Freiwilligenarbeit. Während den zwei Jahren Vorbereitungszeit zimmerte ein Rentner aus Goldach Ruhebänke für die Besucher; jemand entwickelte ein Schachspiel, in dem nicht die Bauern die Verlierer sind; eine über 80-jährige ehemalige Gärtnerin interviewte Fachleute zum Thema Saatgut; eine Homepage entstand.

Bis zum 8.Oktober 2017, täglich offen von 8-17 Uhr
Sonntag, 28. Mai 2017 Gartenfest 10-17 Uhr

Diverse weitere Veranstaltungen bis Oktober
saatgutausstellung.ch

Die Ausstellung kann auf  verschiedenen Ebenen aufgenommen werden, unterhaltsam und informativ ist sie auf jeden Fall. Da sind 12‘000 Jahre Sesshaftigkeit der Menschheit auf fünf Metern komprimiert. Ein Baum, an dem lauter falsche Banknoten (Blüten!) hängen, lässt über die Essbarkeit von Geld nachdenken. Für Kinder gibt es eine Märchenhöhle in einer riesigen Bohnenranke, die sogar die Hallendecke durchstösst.

Hier drin können die Kleinen das Märchen von Jack und der Bohnenranke hören. In der Geschichte ist die Zwiespältigkeit des Helden auffällig, schliesslich ist es Jack, der im Land oben an der Bohnenranke den Riesen beraubt und zuletzt auch noch tötet. Offensichtlich geht es in diesem Märchen genau um die Ambivalenz des Menschen dem Saatgut – der Zauberbohne – gegenüber, die das Ausstellungsthema schlechthin ist.

Aktiv weiter leben lassen

Wer sich tiefer mit dem Thema Saatgut befassen möchte, findet einen reichen Büchertisch vor. Begleittexte vermitteln Informationen zum Beispiel über die Saatgutindustrie, die gleichzeitig auch Pestizide liefert, und mit Hybridpflanzen die Bauern weltweit in die Abhängigkeit von Multis wie Syngenta und Monsanto und Konsorten zwingen.

Ein ausführliches Porträt ist der Firma Zollinger Bio-Samen in Les Evouettes im Unterwallis gewidmet. Dieser Schweizer Samenzüchter-Pionierbetrieb wird heute als Familienbetrieb mit 15 Mitarbeitern in zweiter Generation von Tulipan, Tizian und Til Zollinger geleitet. Die Gebrüder sind überzeugt, dass es nicht ausreicht, Sorten in einer Genbank tiefzugefrieren, wie das als internationales Projekt im Permafrost auf Spitzbergen passiert. Veränderungen wie der Klimawandel schaffen neue Bedingungen, auf die die Pflanzen reagieren, sich weiter entwickeln und anpassen sollen. Statt Samen  einzufrieren, ist es besser, die Pflanzen aktiv weiterleben zu lassen. Im Übrigen empfehlen die Zollingers, auch im kleinen Hobbygarten einige Pflanzen stehen zu lassen und im Folgejahr die Samen für den Eigengebrauch ernten.

Das Thema Saatgut von Nutzpflanzen bleibt an der Ausstellung nicht nur rein theoretisch abgehandelt, deshalb gehören im Botanischen Garten auch Pflanzungen im Freien von Mais, Bohnen, verschiedenen Gemüse- und Salatsorten dazu. Hand anlegen und sich informieren kann man diesen Sonntag beim Gartenfest; unter anderem gibt es eine Samenbörse und Referate zu den Themen «Pflanzenzüchtung am Beispiel Ribelmais», «Pflanzen auf unserem Teller» und «Das Saatgut im Spannungsfeld der Interessen».

Die geglückte Kooperation mit dem Botanischen Garten macht den Anspruch von Public Eye, in der demokratischen Gesellschaftsordnung Verantwortung für ethisches Handeln einzufordern, wörtlich genommen fruchtbar.

Gruppenbild kurz vor der Eröffnung: die Ausstellungsmacherinnen und -macher von Public Eye. (Bilder: pd)

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