Irgendwann hätten wir abgehoben

Tout St-Gall nahm am Donnerstagabend noch einmal Abschied von Peter Liechti. Weggefährten erinnerten an den im April verstorbenen Filmemacher und an seine konfliktreich-fruchtbare Beziehung zur Ostschweiz.
Von  Peter Surber

Mit den Jodelchörlern und Fahnenschwingern und ihren Bergen hatte er es nicht. Die Szene vom Älplerfest auf der Sellamatt gehört zu den grimmigsten Partien in Peter Liechtis Film «Hans im Glück» von 2003. Das entlarvende Porträt einer ihn künstlich inszeniert anmutenden Szenerie endet mit einem missglückten Fahnenschwung – und typisch Liechti’scher Selbstironie: Beinah also wäre er an jenem 22. Juli auf Sellamatt von einer Schweizer Fahne erschlagen worden.

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Liecht in den Bergen. (Bild: Thomas Krempke)

Die Folklore-Attacke hat er überlebt. Zwölf Jahre später ist Peter Liechti tot, gestorben am 4. April an Krebs, «viel zu früh und viel zu plötzlich», wie Kinok-Leiterin Sandra Meier sagt. An diesem Donnerstagabend aber sieht man ihn noch einmal gehen «durchs Gebirg» (ein Hölderlin-Wort), sieht ihn auf die Sellamatt gondeln und auf den verfluchten Säntis hochsteigen im Gewitter, sieht noch einmal Ausschnitte aus «Hans im Glück», noch einmal Liechtis präzise Bilder und ebenso präzise Sätze im Off. Sie lassen den Filmemacher mit all seinen Facetten noch einmal lebendig werden.

«Feier des Lebens»

Christoph Egger, Filmkritiker und Freund, würdigt sein Werk und umschreibt seine letzten, «schmerzlichsten und zugleich reichsten» Jahre. Sein allerletztes Projekt, «Dedications», sollte trotz Krankheit eine «Feier des Lebens» werden, persönlicher noch als die Filme davor, mit denen Liechti auch bereits sein eigenes Leben zum «Forschungsprojekt» gemacht habe. Mit gewaltiger Resonanz bei Kritik und Festivals, aber ohne ein breiteres Publikum zu erreichen. Eggers Erklärung: Liechti habe, auch wenn es um Leben und Tod ging in seinen Filmen, nie «Melodramen» geschaffen, sondern  komplexe Recherchen an den Rändern der Erfahrung – eine Zumutung, der sich nur ein kleiner Kreis freiwillig auszusetzen bereit sei.

Die Film-Ausschnitte, von Liechtis Partnerin Jolanda Gsponer subtil ausgewählt, zeigen aber darüberhinaus auch den witzigen bis sarkastischen Liechti in «Hans im Glück» – einem Film, der über das Private hinaus «das umfassendste Bild der Schweiz der Jahrtausendwende liefert», wie Egger sagt. Sein Fazit: «Peter Liechtis Werk mag nicht abgeschlossen sein – vollendet ist es auf jeden Fall».

Verdienste um eine lebendige Ostschweiz

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Szene aus «Hans im Glück»

Liechtis konfliktreiches Verhältnis zur Ostschweiz ist auch sonst Thema an dem Abend. Marcel Elsener hebt seine Kämpfe und Verdienste um eine kantonale Filmförderung hervor, die (erst heute) diesen Namen auch verdiene. Und widmet Liechti posthum das Stahlberger-Lied von den über St.Gallen niedergehenden Fallschirmspringern – ein «halberfreuliches» Heimatbild, wie es Liechti vermutlich gefallen hätte. Josef Felix Müller, Verleger und Weggefährte schon in den kulturell bewegten Achtzigerjahren, würdigt die Qualität seiner Texte, Schauspielerin Diana Dengler liest aus «Lauftext» und «Klartext», Künstler HR Fricker erzählt launig von seiner Beinah-Filmrolle als «Waldschrat», und Norbert Möslang lässt es mit Live-Ausschnitten aus dem Soundtrack zu «The Sound of Insects» flimmern und brummen und gewittern.

«Dass es nicht öfter donnert, ist ein Wunder»: Den Dürrenmatt-Satz hat Josef Felix Müller mitgebracht für Peter Liechti, er passt wunder-sam zu den gewittrigen Säntis-Szenen aus «Hans im Glück». Und zu einem filmischen Lebenswerk, das in seiner elementaren Wucht und künstlerischen Virtuosität einmalig in der Schweizer Filmlandschaft steht. In dem aber auch die ganz leisen Töne nicht fehlen – etwa bei der Fahrt mit dem alten Postautofahrer, irgendwo durch den gottverlassenen Thurgau, bei der plötzlich alles ganz leicht und licht wird. Liechtis Off-Kommentar:

«Sonntagmorgen, ausgeschlafen. Ein wunderbarer Morgen!
Ich wünsch’ mir eine Fahrt im Postauto, nur der alte Mann am Steuer und ich, der einzige Passagier. Nur wir beide und der grosse Wagen. Immer wieder geh’ ich die leeren Sitzreihen hinauf und hinunter. Dann setz’ ich mich ganz nach vorn neben den alten Chauffeur. Einfach immer weiterfahren… Irgendwann hätten wir angehalten. Das Postauto in den Schatten gestellt, ein Bier getrunken, vielleicht ein Nickerchen gemacht. Dann wären wir weitergefahren durch den endlosen Thurgau. Geredet hätten wir kaum, die Gegend gibt nicht viel zu reden. Kurve um Kurve, immer tiefer wären wir in dieses Grün hineingefahren. Ganz sachte hätten wir abgehoben, kaum merklich, und irgendwann hätte der alte Mann den Motor ganz abgestellt…»

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