Inklusion ist, wenn es die «Bubble» nicht mehr braucht

Zum Abschluss des Pride-Monats der Uni St.Gallen trafen sich am Montag körperlich Behinderte und Queers zu einem Podiumsgespräch vor einem Publikum, das nicht mehr aufgeklärt werden musste. Thema war das «inklusive St.Gallen». Rasch war dabei klar, dass weder der Kanton noch die Stadt St.Gallen mit Inklusionsmassnahmen auftrumpfen können.
Es brauche noch viele erfolgreiche St.Gallen Prides, um der breiten Bevölkerung die Augen zu öffnen, blicke Amanda Künzle, Co-Präsidentin von St.Gallen Pride, auf den erfolgreichen Anlass im August zurück. Der Umzug durch die Stadt habe auf der einen Seite die Teilnehmenden euphorisiert. Doch andererseits bewegten sie sich dort in ihrer «Bubble». Man war unter sich und sicher – beim Trinkgelage an der Olma, sei das dann ganz anders.
Adrian Knecht von der Fachstelle für Aids- und Sexualberatung doppelte nach: Die Sichtbarkeit sei wichtig um Fortschritte zu erzielen, «erst persönliche Konfrontationen brechen das Eis».
Wann kommt die Pride für Menschen mit Behinderung?
Dass es noch viel zu tun gibt, darauf verwies auch Gion Jäggi, der für die Organisation EnableMe tätig ist und sich als Rollstuhlfahrer Behinderten-Prides wünscht, die mit Musik und Freude durch die Strassen ziehen. Er räumte ein, dass Menschen mit Behinderung noch nicht in allen Bereichen gleich aktiv seien wie die Queers und wünschte sich auch mehr Aufklärungsarbeit in den Schulen.
Doch wie steht es um die Hauptfrage des Abends: Wie inklusiv ist St.Gallen? Andrea Scheck, Präsidentin der SP des Kantons St.Gallen und Aktivistin fand ein vernichtendes Adjektiv: «unterirdisch». Der Kanton schaffe es nicht einmal, sich zur Aussage durchzuringen, er verfolge eine Politik der Inklusion. Im Kantonsparlament sässen noch viele Politiker, die von «Genderwahn» oder «Wokeness» redeten.
Zwar schreibt der Kanton inzwischen seine Stellen fast alle mit dem Zusatz m/f/d (d für divers) aus und die Kantonspolizei soll künftig Hate-Crimes gegen Homosexuelle erfassen, doch trans Personen seien dabei vergessen worden, monierte Amanada Künzle. Sie forderte auch Wiedergutmachungen für Betroffene.
LGBTI-Label für die Stadt
Vor einem Jahr – ebenfalls an der Podiumsdiskussion im Rahmen des Pride Monats – lancierten SVP-Stadtparlamentarier Jürg Brunner und Juso-Parlamentarierin Miriam Rizvi die Idee, die Stadt St.Gallen solle sich um ein LGBTI-Label bewerben. In der Folgre reichte Brunner ein Postulat ein, das einen Bericht zum Thema verlangt. Doch der Stadtrat wollte davon nichts wissen: eine Diversity-Strategie sei in Arbeit und die umfasse mehr Themen als das LGBTI-Label. Man werde in diesem Rahmen die queeren Anliegen umfassend berücksichtigen. Auf dieses Versprechen wollte sich die Mehrheit des Parlaments allerdings nicht verlassen und erklärte das Postulat im Februar 2023 gegen den Willen des Stadtrates erheblich. Der verlangte Bericht lässt seither auf sich warten.
Safe Spaces sind nötig
Gion Jäggi sah ein anderes Problem, wieso es nicht vorwärts geht: Inklusionsmassnahmen für Menschen mit Behinderung kosten. Er erwartet, dass die Politik und die Parteien auf die Betroffenen zugehen. Und er verglich: Heute ist es in der Politik völlig selbstverständlich geworden, auf die Frauen zuzugehen, die noch vor wenigen Jahrzehnten ausgeschlossen waren. Er wäre froh, würde die Politik auch auf die Behinderten so offen zugehen.
Aus Sicht der Queers gibt es noch eine lange und konkrete Liste, um echte Inklusion zu erreichen. Adrian Knecht nannte ein gesamtschweizerisches Verbot von Konversionstherapien, ein Operationsverbot für Kinder, die bei der Geburt keinem Geschlecht klar zugeordnet werden können, ein drittes Geschlecht als Zivilstandskategorie und die Zulassung der Samenspende auch für gleichgeschlechtliche Paare. Gefordert wurde aber auch ein Regenbogenhaus in der Stadt St.Gallen oder eine auf queere Menschen spezialisierte Gesundheitsberatung.
Hier hakte Gion Jäggi wieder ein: Volle Inklusion sei erst erreicht, wenn all diese Forderungen erfüllt, respektive ein Regenbogenhaus nicht mehr nötig ist und er als ganz gewöhnlicher Mensch unter vielen im Rollstuhl an einem Olma-Abend sein Bier trinken könnte, sprich integriert wäre und nicht schräg angeschaut würde. Noch bewege man sich – wie auch an diesem Abend an der von Saitenredaktorin Corinne Riedener geleiteten Podiumsdiskussion – in einer «Bubble», quasi unter sich. Solche «Safe Spaces» seien leider noch nötig, waren sich die Diskussionsteilnehmer:innen einig. Es brauche sie zur individuellen Rückendeckung und Stärkung. Doch dann komme der schwierigere Teil: Sich nicht nur für die ganz persönlichen Anliegen einzusetzen, die «Bubble» zu verlassen und sich auch für die anderen Gruppen zu engagieren.
Das Rezept dazu sei zuhören, wurde aus dem Publikum angemerkt, auch denen, die einem fern stehen oder eine ganz andere Grundhaltung haben. Dass das gerade für Jugendliche sehr schwierig sein kann, schilderte eine Mutter, die von ausgrenzenden Szenen auf dem Pausenplatz berichtete, gegen die sich selbst starke Jugendliche nicht mehr zu wehren getrauen. In den Schulen sei noch viel zu tun, räumten zwei Lehrerinnen ein.
«Inklusion heisst für Alle offen zu sein», bilanzierte Adrian Knecht. Der Abschlussabend des Pride Monats lebte es exemplarisch vor.