In der Höllenklinik

Mittwochabend in der Lokremise St.Gallen: Im Premierenpublikum sind für einmal die Jungen in der Überzahl – wenig graue Köpfe. Gespielt wird Dürrenmatts «Der Verdacht», sein zweiter Bärlach-Krimi, geschrieben 1951, aber bis heute Schullektüre, Gymnasiumsklassiker und damit auch für Schauspieldirektor Tim Kramer ein willkommen populärer Saisonstart. Mit weniger bekannten Stücken sei das Publikum nach der Sommerpause […]
Von  Peter Surber

Mittwochabend in der Lokremise St.Gallen: Im Premierenpublikum sind für einmal die Jungen in der Überzahl – wenig graue Köpfe. Gespielt wird Dürrenmatts «Der Verdacht», sein zweiter Bärlach-Krimi, geschrieben 1951, aber bis heute Schullektüre, Gymnasiumsklassiker und damit auch für Schauspieldirektor Tim Kramer ein willkommen populärer Saisonstart. Mit weniger bekannten Stücken sei das Publikum nach der Sommerpause fast nicht ins Theater zurückzubringen, sagt er in der Pause.

Hier gelingt es. Jeder Platz ist besetzt. Regisseurin Karoline Exner hat den Roman klug fürs Bühnenformat bearbeitet. Und warum der Stoff bis heute gelesen, geliebt und dramatisiert wird, ist rasch klar: Es geht um die alten immer frischen Dürrenmatt-Themen, um Verbrechen und Strafe, um den Abgrund Mensch. Für die monströse Seite steht Nehle, der Naziarzt und Peiniger aus dem KZ Stutthoff, der angeblich tot sei, aber, so der Verdacht, in Wirklichkeit unter dem Namen Emmenberger in einer Zürcher Nobelklinik bis heute weiter operiert. Für die andere, gerechtigkeitsfanatische Seite steht Bärlach, der alte Kommissär, schwerkrank, aber (noch) nicht totzukriegen.

David Steck spielt den Bärlach leidend, ächzend, ein bärbeissiger Alter, Schrecken jeder Krankenschwester (Boglarka Horvath), Nervensäge für den befreundeten Arzt Hungertobel (Oliver Losehand) und gefährlicher Kumpan für Schriftsteller Fortschig (Hans Rudolf Spühler). Liebenswürdig eiskalt ist Christian Hettkamp als Emmenberger, beklemmend seine morphiumsüchtige Assistentin und einstige KZ-Insassin Dr. Marlok (Diana Dengler). Regisseurin Karoline Exner und Ausstatterin Daniela Kerck zeigen mit riesigem Plastikvorhang und kalten Eisenbetten eine Welt, die ans Spital ebenso wie ans Lager erinnert.

«Die Hölle gibt es», sagt Bärlach. Hier in der Lokremise ist sie klinisch weiss. Und sehr kontrolliert. Emmenberger hält seine langen Monologe um Verbrechen und Glauben verbindlich, fast charmant – nur einmal würgt er Bärlach, und auch dann wirds dem Publikum nicht todesangst. Menschenmass hat selbst der Riese Gulliver (Marcus Schäfer), Ahasver, der ewige Jude: In Dürrenmatts Prosa ist er ein Kerl von furchterregend narbiger Gestalt, masslos saufend und die Schrecken aller Jahrhunderte mit sich schleppend, ein Rächer ohnegleichen und mit seinem Gegenpart, dem Zwerg, das personifizierte Grauen. Dagegen bleibt die St.Galler Inszenierung mit dieser Figur allzu zurückhaltend. Der Applaus am Ende war dennoch heftig. Und die Dürrenmatt-Sätze bleiben, gehämmert auf den Bühnenvorhang: «Wir können die Welt nicht retten. Wir können sie nur bestehen.»