«Methodic Research» in der Dorfbeiz

Bilder: Filmstills

Seit Mittwoch laufen die 60. Solothurner Filmtage. Am Freitag feiert dort ein in der Ostschweiz entstandenes Erstlingswerk seine Weltpremiere: Galaxi Urnäsch 3000

Der halb­lan­ge Do­ku­men­tar­film (48 Mi­nu­ten) Ga­la­xie Urn­äsch 3000 läuft im Wett­be­werb «Vi­sio­ni», ei­ner kom­pe­ti­ti­ven Sek­ti­on, die ers­te oder zwei­te Fil­me jun­ger Film­schaf­fen­der prä­sen­tiert. Der Film ist ein Ge­mein­schafts­werk, ent­stan­den in Co-Re­gie von vier Stu­die­ren­den der Zür­cher Hoch­schu­le der Küns­te (ZHdK). Un­ter dem Men­to­rat von Sa­bi­ne Gi­si­ger – als Re­gis­seu­rin be­kannt durch Do­ku­men­tar­fil­me wie Yalom's Cu­re, Dür­ren­matt oder ak­tu­ell Jel­mo­li – Bio­gra­fie ei­nes Wa­ren­hau­ses – ha­ben Ni­na Fritz, Lo­la Scur­lock, Fe­lix Sche­rer und Las­se Lind­ner wäh­rend zwei­er Wo­chen im Ok­to­ber 2023 in Urn­äsch und Um­ge­bung fil­mi­sche Ein­drü­cke ge­sam­melt. 

Als lang­jäh­ri­ge Stu­di­en­lei­te­rin für Do­ku­men­tar­film ver­an­stal­tet Gi­si­ger seit sie­ben Jah­ren je­weils das zwei­wö­chi­ge Se­mi­nar na­mens «Me­tho­dik Re­se­arch 2», bei dem sie mit ei­ner klei­nen Grup­pe von Stu­die­ren­den in ein Dorf in den Ber­gen reist. In die­ser Um­ge­bung soll dann ei­ne Do­ku­men­tar­film-Se­rie zu ei­nem frei ge­wähl­ten Su­jet rea­li­siert wer­den. «Die meis­ten mei­ner Stu­die­ren­den kom­men ja nicht vom Land, al­le sind mehr oder we­ni­ger nur mit ei­ner ur­ba­nen Rea­li­tät wirk­lich ver­traut», er­klärt Gi­si­ger. Ihr sei es wich­tig, dass an­ge­hen­de Film­schaf­fen­de sich auch in ei­nem für sie frem­den Kos­mos be­we­gen und mit der dor­ti­gen Be­völ­ke­rung zu in­ter­agie­ren lern­ten.

Mit Ga­la­xi Urn­äsch 3000 hat es nun erst­mals ei­ne Grup­pe Stu­die­ren­der gleich an ein Fes­ti­val in den Wett­be­werb ge­schafft. Sie sei­en in je­nen zwei Wo­chen im Ok­to­ber 2023 ex­trem krea­tiv und pro­duk­tiv ge­we­sen, sagt Gi­si­ger und be­tont, es sei auch das ers­te Mal, dass aus dem ge­film­ten Ma­te­ri­al ein Film und nicht ein­fach ei­ne lo­cke­re Se­rie ein­zel­ner Kurz­fil­me ent­stan­den sei. Und tat­säch­lich: Ga­la­xi Urn­äsch 3000 wirkt wie aus ei­nem Guss.

Die Kir­che im Dorf

Es be­ginnt mit Sphä­ren­klän­gen und ei­ner Ka­me­ra­fahrt aus gros­ser Hö­he über Schnee­fel­der am Sän­tis. Da­zu die Stim­me des As­tro­no­men der Urn­ä­scher Stern­war­te. Er er­zählt von der Milch­stras­se und von den Mil­li­ar­den an­de­rer Ga­la­xien, die es ne­ben der von uns sicht­ba­ren auch noch ge­be, wo­mit die Wahr­schein­lich­keit aus­ser­ir­di­schen Le­bens sehr hoch sei. Dann öff­net sich lang­sam ei­ne Lu­ke der Stern­war­te und gibt den Blick frei auf grü­ne Wie­sen mit der Hoch­alp im Hin­ter­grund. Lang­sam schwenkt die Ka­me­ra und rückt Urn­äsch ins Blick­feld, Kir­chen­glo­cken läu­ten, der Film­ti­tel er­scheint, Schnitt, der Ge­mein­de­rat de­bat­tiert über den Lärm der Kir­chen­glo­cken. Mit viel Ge­schick um­reisst das Re­gie­quar­tett schon in die­sen ers­ten zwei­ein­halb Film­mi­nu­ten sei­nen Mi­kro­kos­mos.

Den An­stoss zur Wahl Urn­äschs als Ort für das Se­mi­nar 2023 ga­ben Me­di­en­be­rich­te vom Som­mer je­nes Jah­res zum über­bor­den­den Mas­sen­tou­ris­mus samt meh­re­rer töd­li­cher Berg­un­fäl­le im Sän­tis­ge­biet, er­klärt Sa­bi­ne Gi­si­ger. Doch als man dann im Ok­to­ber in Urn­äsch an­kam, war die Sai­son vor­bei, wa­ren die Tou­rist:in­nen weg. Und von den Stu­die­ren­den sei dann die Idee ge­kom­men, das dörf­li­che Le­ben mit dem zu ver­bin­den, was man von der Stern­war­te aus sieht. 2022 war Urn­äsch ja auch das Schwei­zer Dorf des Jah­res ge­we­sen, doch da­mit hat­te die Wahl des Dreh­or­tes nichts zu tun ge­habt. 

Clash der Wel­ten

Die Film­stu­dent:in­nen hät­ten ei­nen er­staun­lich lo­cke­ren und selbst­ver­ständ­li­chen Um­gang und Zu­gang zu den Leu­ten in Urn­äsch ge­fun­den, sagt Gi­si­ger. Da­bei pral­len im Dorf die un­ter­schied­lichs­ten Wel­ten auf­ein­an­der: Es gibt den Klein­bau­ern mit sei­nem klei­nen Sohn und den fünf Kü­hen, die Wir­tin des Lö­wen, den alp­horn­bla­sen­den Post­au­to­ch­auf­feur, den Metz­ger und den Ar­chi­tek­ten, der das Ho­tel Kro­ne um­bau­en und er­wei­tern möch­te, wo­bei dann ein be­lieb­ter Treff­punkt, die schumm­ri­ge Bar im Kel­ler, weg­fal­len wür­de. Wei­ter gibt es den Män­ner­chor, die Frau­en­turn­rie­ge, die Män­ner, die be­reits das nächs­te Sil­ves­ter­ch­lau­sen vor­be­rei­ten, aber auch die Ju­gend­li­chen, die weg möch­ten aus der dörf­li­chen En­ge, die von ei­ner Kar­rie­re als Rap­per im fer­nen Ber­lin träu­men und die nachts in ei­nem im­pro­vi­sier­ten Stu­dio im hin­te­ren Teil ei­ner Scheu­ne an ih­ren Ly­rics fei­len.

Länd­li­che Ko­exis­tenz

Man hat Urn­äsch und die Um­ge­bung zwar schon frü­her wie­der­holt in be­kann­ten Schwei­zer Do­ku­men­tar­fil­men ge­se­hen, so et­wa in Sil­ves­ter­ch­lau­sen von Tho­mas Ri­cken­mann (2011) oder im dia­log­lo­sen Film­essay Sen­nen­bal­la­de von Erich Lang­jahr (1996) oder als 1989 Pe­ter Liech­ti in sei­nem ers­ten lan­gen Do­ku­men­tar­film Kick That Ha­bit in ei­ner Sze­ne im Ne­bel mit der Seil­bahn auf den Sän­tis ge­wis­ser­mas­sen ans En­de der Welt fuhr. Ei­ne ana­lo­ge Se­quenz fin­det sich nun auch in Ga­la­xi Urn­äsch 3000

Der­ar­ti­ge vi­su­el­le Er­in­ne­run­gen sind im Film des viel­ver­spre­chen­den Re­gie­quar­tetts je­doch rein zu­fäl­lig. Das min­dert aber nicht im ge­rings­ten die Qua­li­tät die­ses aus­ser­ge­wöhn­li­chen De­büts, des­sen gröss­te Leis­tung dar­in be­steht, mit welch gros­ser Ge­nau­ig­keit und Un­vor­ein­ge­nom­men­heit es sich sei­nen Prot­ago­nist:in­nen nä­hert. Wenn am En­de zu den Klän­gen und Rhyth­men der jun­gen Rap­per sich al­le an­de­ren Dörf­ler freund­lich lä­chelnd noch ein­mal prä­sen­tie­ren, schei­nen Tra­di­ti­on und Mo­der­ne ganz selbst­ver­ständ­lich mit­ein­an­der zu ko­exis­tie­ren. Ganz wie im ech­ten Le­ben. 

 

Ga­la­xi Urn­äsch 3000 an den So­lo­thur­ner Film­ta­gen: 24. Ja­nu­ar, 19.30 Uhr, Ki­no Pa­lace, und 28. Ja­nu­ar, 14.30 Uhr, Kon­zert­saal 

so­lo­thur­ner­film­ta­ge.ch