In den Tiefen des Materials die Performance
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Es klingt nach einer Art Wunderland, wenn der Filmemacher Jan Buchholz erzählt: «Das Gefühl war, in eine Installation hineinzugeraten. Dass da irgendetwas dahinter war. Ich versuchte also herauszufinden, was es war.» Die Situation, um die es geht, liegt knapp zwei Jahrzehnte zurück und ereignete sich an der St.Galler Wassergasse, wo heute ein Kongresszentrum steht und sich damals das «Gambrinus» befand.
Buchholz in seinen frühen Zwanzigern, zu jener Zeit mit den Arbeiten an seinem Klassiker Auf- und Abbruch in St. Güllen beschäftigt, besuchte seinen Nachbarn, den Konzeptkünstler Hermann Reinfrank zum ersten Mal in seiner Wohnung – und die war einigermassen voll mit Material.
In jenem Moment beginnt eine langjährige künstlerische Freundschaft und Zusammenarbeit, ein Dialog zwischen Künstler und Filmemacher, Kamera und Material. Das eindrückliche Ergebnis dieses Prozesses kann man nun als 3-Kanal-Videoinstallation im Projektraum Auto im Linsebühl betrachten: Konzipiert als gemeinsame Arbeit, nahm sich Buchholz nach dem überraschenden Tod Reinfranks im Mai 2023 der nicht leichten Aufgabe an, sie fertigzustellen.
Eine Kunst des Wohnens
Die Motive stammen aus der Wassergasse, wo sie beide wohnten, und den zwei späteren Wohnungen Reinfranks, einem Keller in der Lachen und einer Dachwohnung in St. Fiden. 17 Jahre lang besuchte Buchholz, in jener Zeit wohnhaft in Luzern, Bern und Biel, den Künstler mit seiner Kamera. Gefilmt wurde mit den Vorgaben, dass der Plan beim Machen entstehen und dass es kein klassisches Künstlerporträt werden soll.
Mit dem Eintauchen in die materialreiche Installation arbeitete sich die Kamera den Blick frei für die andere grosse Facette des Reinfrank’schen Werks: die lebenslange Performance. In diesem komplexen Sinne kann von Inszenierungen gesprochen werden. Zwar sind da intime (und für Freund:innen leerer Wohnungen herausfordernde) Bilder, aber die Performance ist auch nicht für eine Agora reserviert. Sie bricht nicht mit dem Durchschreiten der Wohnungstür, misst sich womöglich exakt daran, diese Trennung zu invertieren und auf der Schwelle zu tanzen. Eine Realität der Inszenierung in Szene gesetzter Wirklichkeit, ontologische Performanz.
«Material» von Jan Buchholz und Hermann Reinfrank: 7. März bis 4. April, Projektraum Auto, Linsebühlstrasse 13, St.Gallen. Zudem im Juni im Gepard 14,Bern, und im Herbst im Espace Libre, Biel.
Vernissage: 7. März, 19 Uhr
Lesung mit Julia Kubik: 14. März, 19.30 Uhr
Linsebühlspaziergang mit Richard Butz und der Association Verdre: 28. März, 18 Uhr, Start im Point Jaune Museum,
Finissage: 4. April, 20 Uhr, mit Green Rock ’n’ Roll mit Naurasta Selecta.
Performance des Alltags
Kunst und Leben sind nicht zu trennen. Das galt auch in der Gründungsphase der St.Galler Kunsthalle, der Reinfrank zeitlebens als Vorstand verbunden blieb: Kunst soll nicht bloss im etablierten Rahmen gezeigt werden, man soll näher zusammenkommen, diagonale und wilde Linien durch die Gesellschaft ziehen. Heute spricht bei allem Exhibitionismus in der Gegenwartskunst selten jemand ohne Filter über das nackte Dasein, und auch die Kunsthalle provoziert schon länger nicht mehr: Sie ist zu einer etablierten Institution geworden.
Zeitgenössisch ist Reinfrank nicht zuletzt, wo er mit der Seichtigkeit gewisser Selbstbehauptungen in Kunstmarkt und Kreativindustrien in Konflikt tritt. Seine Performance des Alltags, die zugleich Performance im Alltag meint, ist radikaler, aber auch viel feiner als solche Begriffshülsen. Sein Werk zeigt, wo die Gegenwart hingehen könnte, würde sie sich für ihre eigenen Begriffe interessieren.
Buchholz dokumentiert mit seiner Kamera einen Abschnitt von Reinfranks Lebenswerk, wie er betont. Die 1980er, 90er und frühen Nullerjahre, (punkto Öffentlichkeit) die intensivste Schaffensperiode, tauchen nur in Form materieller Zitate auf: Ohne mehr zu verraten, ist der Versuch, Zeit zu materialisieren, eine wesentliche Komponente des Werks.
Die gemeinsame Filminstallation lässt nun die Betrachtenden selbst räumlich in eine performative Installation eintreten. Ein philosophischer Dialog über das Wesen und die Notwendigkeit der Kunst: das Unfassbare und Aleatorische, das vor den Füssen Liegende und unerwartete Manipulationsfehler, das Relationale und die Gastfreundschaft. Zu entdecken im «Material».
Die Association Verdre (Martin Amstutz, Jan Buchholz und Michael Felix Grieder), Abteilung des Institut de ’Pataphysique Appliquée, startet am 28. März die erste Runde einer dreijährigen Veranstaltungsreihe (grüne Donnerstage) zur Erforschung des Werks von Hermann Reinfrank. Nach dem Auftakt im Point Jaune Museum und im Auto mit Veranstaltungen im Textilmuseum, Open Art Museum, Gepard 14 Bern und in der Vadiana. Mehr dazu im «Wochenblatt» No. 1356 vom Aschermittwoch, bestellbar unter: postpost.ch/wochenblatt
Der Film Auf- und Abbruch in St. Güllen ist am 21. März am Palace-Fest zu sehen. palace.sg