Immer wieder Baratella

Seit 1922 besteht am Unteren Graben 20 in St.Gallen das Restaurant Baratella. Und seit 1950 wirtet hier die Familie Marchesoni, heute in zweiter Generation. Ein reich illustriertes Buch blickt nun auf die Geschichte, die Menschen und die Gäste des längst zur Legende gewordenen Restaurants. von Richard Butz
Von  Gastbeitrag
Unbekannte junge Geniesserin im Baratella. Foto aus einem der Gästebücher, deren Einträge im ganzen Buch verstreut sind.

Ist in St.Gallen von einem italienischen Restaurant die Rede, fällt unweigerlich der Name Baratella. «Dieses Restaurant», so Heinrich Christen in der Einleitung zum Buch Immer wieder Baratella, «ist kein Gourmettempel, es nimmt nicht teil am Rennen nach Sternen und Hauben, nach Aufmerksamkeit und Anerkennung in Gastrokolumnen und Lifestyle-Heften.» Dafür wird solide in italienischer Manier gekocht, die Preise sind akzeptabel, das Team ist über viele Jahr das gleiche, der Service hochstehend und persönlich und willkommen sind alle, egal welcher Einkommensklasse. Dies alles zeichnet das Baratella aus und macht es zu einem ikonischen Restaurant.

Zur Baugeschichte gibt Niklaus Ledergerber Auskunft, und Fredi Hächler, ein ausgewiesener Kenner der St.Galler Restaurantgeschichte, berichtet, dass der erste Vorgänger, das Rigi, auf das Jahr 1877 zurückgeht. Bis 1905 gab es 21 Wirte- und mehrere Namenswechsel, dann übernahm der 1878 geborene und 1900 nach St.Gallen gekommene Salvatore Baratella das Lokal und führte es 42 Jahre lang. 1950 stieg Beniamino Marchesoni als Koch bei Baratellas Nachfolger ein und wurde 13 Jahre später dessen Nachfolger als Wirt und Pächter des Restaurants, das der Stadt St.Gallen gehört. 1989 übernahm es sein Sohn Franco und wirtet hier, zusammen mit seiner Frau Andrea, bis zum heutigen Tag.

Über Umwege nach St.Gallen

Aufgewachsen ist Beniamino Marchesoni in der Provinz Bozen. Er absolvierte eine Kochlehre, geriet bald darauf in die Wirren des Zweiten Weltkriegs und kam in deutsche Gefangenschaft, bestimmt für ein Konzentrationslager in Polen. Auf dem Marsch zum Verlad per Zug konnte er fliehen. Nach einigen schwierigen und teils abenteuerlichen Intermezzi gelangte er am 2. Juli 1945 in die Schweiz, zuerst nach Winterthur und bald darauf nach St.Gallen. Mit enormem Engagement brachten er und seine Frau Carolina sehr viel Italianità ins Baratella. Aus den Gästebüchern sind zahlreiche, oft illustrierte Einträge ins Buch eingestreut. Sie zeugen von einer illustren Kundschaft, unter ihnen Politiker, Künstlerinnen, Schriftsteller, Schauspielerinnen und viele treue Stammgäste.

Franco Marchesoni wirtet seit 1989 im Baratella. (Bild: Daniel Ammann)

Franco ist eines von sechs Kindern des Ehepaars Marchesoni. Er erwarb seine Kochkenntnisse bei verschiedenen Stellen. In einem Kapitel des Buches werden er und langjährige Mitglieder des Teams, unter ihnen seine Schwester Chiara, in Wort und Bild mit jeweils ihrem Lieblingsgericht vorgestellt. Zwei fotografische Momentaufnahmen zeigen Franco und sein Team bei der Arbeit und dokumentieren Gäste und Atmosphäre im Baratella.

Speisekarte als Kunstschaufenster

Eine der beiden Bildstrecken ist 2007 bei der Vernissage einer neuen Speisekarte, gestaltet von der 1935 in St.Gallen geborenen Künstlerin Silvie Defraoui, entstanden. Sie führte damit eine Tradition weiter, die mit Piero Dorazio (1976) und Giuseppe Santomaso (1979) begann. Beide waren mit der legendären St.Galler Erker-Galerie und deren Betreiber Franz Larese und Jürg Janett verbunden. Als Stammgäste brachten sie regelmässig Künstler:innen ins Restaurant mit, unter ihnen etwa Max Bill, Anna-Eva Bergmann, Eugène Ionesco, Antoni Tàpies oder Günther Uecker.

Ab 1990 hat Franco Marchesoni die Kunstedition, die jeweils als Vorlage zu einer Speisekarte dient, mit Günter Wizemann, Rolf Hauenstein, Maurizio Giuseppucci, H.R. Fricker, Günter Förg, Ilona Ruegg, Günther Uecker und Zin Taylor fortgeführt. Roland Wäspe schreibt im Buch kenntnisreich über die vielfältigen Verbindungen von Kunst und Gastronomie im Baratella.

Immer wieder Baratella, Hrsg. Restaurant Baratella, Franco Marchesoni und Team. Verlag VGS, St.Gallen 2023, CHF 48.-

Zweite Vernissage: 3. Dezember, 18 Uhr, Restaurant Baratella. Buch und Nachtessen (vier Gänge inkl. Getränke), eine Person CHF 170.– / zwei Personen CHF 300.–, Anmeldung erforderlich.

Ausführlich zu Wort kommen 35 Stammgäste. Zum Beispiel Martin Leuthold, langjähriger Art Director bei der Jakob Schlaepfer AG, der fragt «Was im Baratella fehlt?» und gleich antwortet «Nichts!». Als Alptraum nennt er: «Wenn es orange gestrichen würde.» Günther Uecker notiert: «Aufgetischt, von Düften umschmeichelt, beflügelnd die Wörter, das schallende Lachen am Ort der Sehnsucht.» Viel Selbstvertrauen zeigt Franco Marchesoni, indem er einen Blick in seine Küche mit einer Auswahl von Rezepten samt Weinempfehlungen gewährt, etwa für Melanzane fritte, Ossobuco, seine Lieblingsspeise, Bollito Misto, Fegato di vitello alla veneziana oder Amaretti.

Dieses typografisch schön gestaltete Sammelsurium ist eine gelungene Hommage an ein Restaurant, das aus St.Gallen nicht mehr wegzudenken ist.