, 15. April 2024
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Im Zweifel Suizid

Regisseur Werner Schweizer begibt sich auf die Spuren der Affäre Flükiger. Dabei spielen die RAF, jurassische Separatist:innen und eine weisse Amsel eine Rolle. Und die Schweizer Politik, die funktioniert, wie sie eben funktioniert.  

Ruedi Flükiger wurde nur 21. Er war leidenschaftlicher Velofahrer. (Bild: Filmstill)

Es ist einen kühler Septemberabend 1977 im südwestlichsten Zipfel des Jura, unweit der französischen Grenze. Nachts nähern sich die Temperaturen bereits dem Nullpunkt. Der Offiziersaspirant Rudolf Flükiger ist mit Landkarte und Taschenlampe im Wald unterwegs, Tenue Blau. Der sportliche 21-Jährige steht drei Wochen vor Ende seiner Ausbildung zum Unteroffizier. 19 Posten umfasst der Orientierungslauf, den er in dieser Nacht absolvieren soll. Er hat sich die entlegensten als erstes ausgesucht, um so viele Punkte wie möglich zu sammeln. Doch der Bauernsohn aus dem Berner Mittelland braucht ungewöhnlich lange.

Als um Mitternacht immer noch jede Spur von Aspirant Flükiger fehlt, beginnt man rund um den Waffenplatz Bure, dem 600 Hektar grossen Gebiet, wo er stationiert ist, nach ihm zu suchen. Ohne Erfolg. In den folgenden Wochen durchkämmen hunderte Soldaten, Polizeiangehörige und Freiwillige das Gebiet, sogar Pendler und Wahrsager werden hinzugezogen. Gewissheit gibt es erst einen Monat später: Ein Jäger findet Flükiger tot im Wald, zerfetzt von einer Granate.

War es die Rote Armee Fraktion RAF, die sich zu jener Zeit im französisch-schweizerischen Grenzgebiet herumtrieb? Waren es jurassische Separatist:innen, Mitglieder der Groupe Bélier, die den Soldaten entführten und aus Versehen getötet haben? War es ein Unfall oder ein Suizid? Oder steckt doch etwas ganz anderes hinter dem Tod von Ruedi Flükiger? Der Fall hat damals hohe Wellen geworfen und ist bis heute ungelöst, ein Cold Case, der von den Justizbehörden auch nicht mehr aufgerollt wird. Als offizielle Todesursache geben sie Suizid an.

Spekulationen und Eigeninteressen

Damit wollte sich Werner Schweizer nicht zufriedengeben. Der Regisseur ist ein Jahr jünger als Flükiger und im selben Dorf zur Schule gegangen. Er begibt sich in seinem neuen Dokfilm Operation Silence – die Affäre Flükiger auf Spurensuche, spricht mit Angehörigen, Sachverständigen und Zeitzeugen. Schweizer will Licht in die mysteriösen Ereignisse bringen, die in den Monaten vor der nationalen Abstimmung über die Unabhängigkeit des Kantons Jura passierten.

Operation Silence – die Affäre Flükiger: ab 17. April im Kinok St.Gallen. Premiere um 20 Uhr in Anwesenheit des Regisseurs

kinok.ch

Daniel de Roulet: Staatsräson, Limmat Verlag, Zürich 2021

Rund um den Fall Flükiger ranken sich zahlreiche Gerüchte und Theorien, geschuldet auch den damals turbulenten Zeiten: Seit Jahrzehnten kämpft das breit aufgestellte Rassemblement jurassien für einen eigenständigen Kanton – und ist 1977 auf der Zielgeraden. In Deutschland macht die zweite Generation der RAF mit dem «Deutschen Herbst» Furore. Die Leiche des ermordeten Arbeitgeberpräsidenten und ehemaligen SS-Offiziers Hanns Martin Schleyer findet man fast gleichzeitig mit Flükiger in Mulhouse, keine Autostunde von Bure entfernt.

Die Spekulationen waren wild – und gewisse am Fall Beteiligte wussten diese nur zu gut für ihre Eigeninteressen zu nutzen. Flükiger könnte der RAF in die Quere gekommen sein. Dem Untersuchungsrichter Arthur Hublard kam diese Theorie gelegen, er überwachte, fichierte und verhaftete vorsichtshalber gleich das versammelte linksaktivistische Milieu der Region. Für den Bundespräsidenten Kurt Furgler hingegen stimmte die Suizid-Theorie, obwohl ein anonymer Brief die Schuld der jurassischen Groupe Bélier gab und die Familie Flükiger einen Suizid schon damals und bis heute vehement bestreitet. Doch Furgler wollte einen neuen Kanton schaffen und hatte eine Abstimmung zu gewinnen. Militante Separatist:innen hätten ihm schlecht in den Kram gepasst. Solche hätte er dann eher für sein anderes Herzensprojekt brauchen können, die nationale Polizeispezialeinheit namens BUSIPO.

Die weisse Amsel

Werner Schweizer hat den Fall Flükiger jahrelang recherchiert. Er hält alle drei Theorien für widerlegt, insbesondere den Suizid, der für die Behörden eine willkommene Todesursache war und letztlich wohl half, die Jura-Abstimmung zu gewinnen. Damit ist Schweizer nicht alleine. Und er hat eine ganz neue Spur aufgetan: Während der Schnittarbeiten am Film wurde ihm anonym bisher unveröffentlichtes Material zugespielt, was dem Fall eine neue Wendung gab. Eine weisse Amsel spielt darin eine wichtige Rolle…

Auch der Schriftsteller Daniel de Roulet hat in seinem 2021 erschienenen Roman Staatsräson den Fall Flükiger thematisiert. Lösen konnte er ihn nicht – was die Lektüre nicht weniger attraktiv macht. Regisseur Schweizer kommt der Lösung des Falls mit seinem Film immerhin ein gutes Stück näher, auch wenn es wohl nie Gewissheit geben wird. Dafür einmal mehr die Erkenntnis, dass die Schweizer Politik eben funktioniert, wie sie funktioniert: Was stören könnte, wird aus dem Weg geschwiegen. Oder überwacht.

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