, 5. Juni 2023
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«Im Theater bekommt man Zeit geschenkt»

Hierarchien, Highlights, Heimat und die Magie des Theaters: Schauspieldirektor Jonas Knecht im Abschiedsinterview nach sieben Jahren in St.Gallen.

Jonas Knecht wird 2024 Intendant am Theater Erlangen. (Bilder: Mindaugas Matulis)

Saiten: 1998 taucht der Name Jonas Knecht erstmals in meinem Archiv auf, in einem Zeitungsbericht über ein Liedprogramm von dir…

Jonas Knecht: Das war ein Projekt, das aus einem Theaterkurs entstanden ist. Ein erstes Mal führten wir es in der «Letzten Latern» an der Schwertgasse auf, dann in der Grabenhalle. Kinderlieder, Liebeslieder und ein blaues Auge oder so ähnlich hiess der Titel.

Das ist ein gutes Stichwort, 25 Jahre später: Gehst du mit einem «blauen Auge» von St.Gallen weg?

Zunächst: St.Gallen ist meine Heimatstadt. Für mich und wohl für viele Menschen gilt, dass man zu seiner Heimatstadt eine Art Hassliebe hat. Es ist nicht einfach «der beste Platz der Welt». Insofern fällt es mir nicht so schwer, zu gehen.

Beim raschen Abgang deines Vorvorgängers als Schauspieldirektor, Josef Köpplinger, im Jahr 2005 hat das «Tagblatt» Theaterschaffende befragt. Unter anderem sagte der Regisseur Samuel Schwarz damals: «Man hat es in der Schweiz unheimlich schwer mit Theater. Jeder beisst sich hier die Zähne aus.» Ist das so? Du gehst ja nicht freiwillig, sondern dein Vertrag ist nicht über 2023 hinaus verlängert worden.

Das ist so. Der neue gesamtverantwortliche Direktor sollte die Stelle frei besetzen können, das war für den Verwaltungsrat der Grund für die Nicht-Verlängerung. In einer solchen Position muss man akzeptieren, wenn man nicht verlängert wird. Es gibt kein Anrecht auf neun oder zwölf Jahre oder wieviel auch immer. Und ja, Theatermachen ist nicht einfacher geworden in den letzten Jahren, denn die Frage, wie Theater heute überhaupt geht, ist dringlicher denn je.

Bitter ist es trotzdem, nicht verlängert zu werden?

Ja, aber nicht wegen meiner Person. Nach wie vor finde ich die neue Leitungsstruktur, die der Verwaltungsrat beschlossen hat, nicht richtig. Werner Signer hatte durch sein langes Wirken hier zwar eine besondere Position mit sehr vielen Kompetenzen. Dass der kaufmännische Direktor die ganze Verwaltung, das Marketing, die Disposition, das künstlerische Betriebsbüro, die Werkstätten etc. unter sich hatte, das war, zusammen mit den Finanzen, eine starke Machtkonzentration. Aber darüber hätte man reden können. Es wäre möglich gewesen, aus der Beinah-Viererleitung, dem bisherigen Modell, mit wenig Aufwand eine tatsächliche Co-Leitung zu bilden, die wirklich zeitgemäss gewesen wäre. Wobei ich Werner Signer ein Kränzchen winden muss, denn er hat mir künstlerisch alle Freiheiten zugestanden. Davor habe ich grosse Hochachtung.

Künftig kommt noch mehr Macht bei einer Person, dem neuen gesamtverantwortlichen Direktor und Operndirektor Jan Henric Bogen zusammen.

Ob der jetzige Verwaltungsrat noch hinter dieser Lösung steht, bin ich mir nicht sicher. Die Personen, die sie durchgedrückt haben, Regierungsrat Martin Klöti und Verwaltungsratspräsident Urs Rüegsegger, sind nicht mehr im Amt. Was mich besonders ärgert: Ich hatte damals im Verwaltungsrat ein flammendes Plädoyer für eine mehrköpfige Leitung gehalten. Und kritisiert, dass der neue Direktor zusätzlich eine Sparte leiten sollte. Ich fragte mich, wie das gehen soll, alle Geschäfte zu führen und auch noch eine Sparte zu leiten. Der Einwand stiess auf Verständnis – und dann wurde trotzdem alles anders gemacht. Ich bin überzeugt, dass mit Werner Signers Rücktritt der Zeitpunkt ideal gewesen wäre, den Betrieb Konzert und Theater St.Gallen und seine Leitung neu und zeitgemäss zu denken.

Du wirst 2024 Intendant am Theater Erlangen. Was reizt dich daran?

Das Theater Erlangen hat rund 80 Mitarbeitende, es ist überschaubar, und ich will dort nicht zuletzt versuchen, auch Theaterleitung anders zu denken. Beispielsweise eine Hausautorin, ein Ausstatter, natürlich Dramaturginnen, ein Musiker, Vertreterinnen aus dem Ensemble, ein Hausregisseur, Spezialistinnen von aussen – sie alle sollen das Profil des Hauses prägen, zusammen Inhalte für einen Spielplan erarbeiten mit ihren ganz unterschiedlichen Blickwinkeln auf das Theater, auf Themen und die Welt. Die Chance, in einer kleinen Stadt Theater zu machen, ob St.Gallen oder Erlangen, liegt darin, dass man es konzentrierter und mit mehr Ruhe tun kann und weniger stark der Schlangengrube ausgesetzt ist als in der Metropole. Dort muss alles ständig schneller, höher, bunter, skandalöser, performativer werden. Diesen Druck hatte ich hier nicht und weiss auch nicht, ob ich ihm standhalten könnte. An einem kleinen Ort ist das Publikum weniger übersättigt und abgebrüht. Es macht für mich sehr viel Sinn, fernab der grossen Zentren Theater zu machen.

«Die Chance, in einer kleinen Stadt Theater zu machen, ob St.Gallen oder Erlangen, liegt darin, dass man es konzentrierter und mit mehr Ruhe tun kann und weniger stark der Schlangengrube ausgesetzt ist als in der Metropole.»

 

Du warst zuvor in der freien Szene tätig und in St.Gallen zum ersten Mal an einem Staats- oder Stadttheater engagiert. Im Saiten-Interview damals vor Amtsantritt hast du betont, nicht das Stück «Freie Szene gegen Stadttheater» spielen zu wollen. Du hast auch von den Freien als «vierter Sparte» am Theater gesprochen. Sehr viel an Kooperation gab es dann aber nicht während deiner Zeit.

Es ist einiges geglückt, das Festival «Jungspund» ist ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel von Institutionen und Freien. Zudem hat sich das Theater St.Gallen am Förderprogramm «Dramenprozessor» beteiligt, mit dem Theater Chur, der Winkelwiese, dem Schlachthaus Bern und anderen. Bleibt der Einwand, und mit ihm verärgere ich natürlich gewisse Leute: Nur weil eine Gruppe aus der freien Szene kommt, bedeutet das noch nicht, dass ihre Arbeit interessant ist. Eine aus meiner Sicht geglückte Kooperation war Schleifpunkt mit dem freien Theater Marie aus dem Aargau. Das Projekt hat mich künstlerisch sehr überzeugt, es sollte auf Tournee gehen, geriet dann aber im Lockdown zum digitalen Projekt. Die «vierte Sparte» zu etablieren, ist mir nicht geglückt, aus hundert Gründen – bis hin zu dem Punkt, dass eine solche Kooperation nicht in der Leistungsvereinbarung steht.

Die Leistungsvereinbarung könnte man ja ändern.

Ich fände es nach wie vor extrem spannend und gerade auch für eine kleinere Stadt wie St.Gallen erstrebenswert, Gruppen aus der freien Szene mit eigener künstlerischer Leitung in den «regulären» Spielplan des Theaters einzubauen. Synergien zu nutzen. Aber das bräuchte viele Ressourcen, und in dieser Hinsicht ist das Theater St.Gallen selber komplett am Anschlag. Proberäume und Werkstätten sind voll ausgelastet, das Personal ist knapp.

Die Lokremise müsste offener werden, hast du im selben Interview nach deiner Wahl gesagt.

Ja, aber inzwischen weiss ich: Die Lokremise zu öffnen, ist nicht so einfach, wie es klingt. Das Theater probt auch dort, es gibt keine Lagerräume für Bühnenbilder, nicht genügend Aufenthalts- und Garderobenräume, dadurch hat sich der heutige Stagionebetrieb etabliert. Ein wechselndes Programm aufzubauen und mehr Gastspiele zu ermöglichen, hiesse: mehr Lastwagen, mehr Container, mehr Lagerraum, Transportlogistik ohne Ende. Und nötig wäre ein ziemlich grosser Pool von Technikerinnen und Technikern, die für den Betrieb in der Lokremise zuständig sind. Die Folge wären viel höhere Mietpreise. Man müsste den jetzigen Betrieb sehr grundlegend überdenken und ändern, um das zu ermöglichen.

Du wärst der Mann gewesen, das zu ändern, die Lokremise beweglicher zu machen.

Vielleicht, ja. Das wäre dann wohl ein eigener Job gewesen, den ich unmöglich hätte neben meiner Tätigkeit als Schauspieldirektor bewerkstelligen können. Da war ich viel zu naiv zu glauben, dass das so einfach wäre. Wie gesagt, man müsste das ganze Betriebskonstrukt der Lok neu denken, um da etwas ändern zu können, um eine richtige Öffnung zu erwirken.

Du hast in jenem Interview auch gesagt: «St.Gallen ist zu klein dafür, dass jeder sein eigenes Süppchen kocht.» Im Nachhinein muss man also feststellen: Es kocht halt doch jeder sein eigenes Süppchen.

Ja, das ist so. Der «Pool» als Proberaum für die Freien ist ein «eigenes Süppchen», das neue Paula-Festival ebenfalls. Richtig tolle Süppchen allerdings! Was die Situation der freien Theater- und Tanzszene betrifft, müsste nach meiner Überzeugung von Kanton und Stadt St.Gallen ein klares Zeichen kommen, inklusive eines ordentlichen Aufbau- und Betriebsbudgets. Wer fordert, das Theater St.Gallen müsse dieses Problem lösen, macht es sich zu einfach. Bisher beschränkt sich das Engagement der Behörden darauf, dass alle paar Jahre ein partizipativer Prozess stattfindet, in dem man herausfindet, dass ein Haus für die Freien fehlt. Umgekehrt: So viele Freie gibt es in St.Gallen momentan auch nicht, also gibt es kein Haus, und weil es kein Haus gibt, wächst die Szene nicht. Ein Kreis, den Stadt und Kanton entschieden durchbrechen müssten.

An einem Podium im Januar kamen zumindest sehr viele Ideen für eine Bespielung des Theaterprovisoriums «Umbau» zusammen – für den Fall, dass es länger zur Verfügung gestanden wäre. Da hatte man den Eindruck: Die Szene lebt. Der «Umbau» hätte sich gut gefüllt.

Und jetzt wird er verschrottet. Das ist schon auch typisch St.Gallen. Statt dass man Geld in die Hand nimmt, den Bau auf die Kreuzbleichewiese oder auf das Güterbahnhofareal zügelt und so umbaut, dass er kleinere, getrennte, multifunktionelle Räume bietet. Klar, das würde ein paar Millionen kosten, und der Betrieb benötigt dann auch Geld. Aber man hätte eine Lösung. Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die Lok nicht der richtige Ort für die Freien wäre, selbst wenn das Theater einen Raum abgäbe.

«Typisch St.Gallen: Statt dass man Geld in die Hand nimmt, den Bau zügelt und umbaut, wird er verschrottet.»

 

Auf dein eigenes Programm zurückgeblickt: Was ragt heraus? Mir kommt zum Beispiel Kafkas Prozess, inszeniert mit Puppen und Menschen, in den Sinn. Oder Verminte Seelen, das Projekt um den Skandal, dass die Schweiz jahrzehntelang hunderttausende Jugendliche und Erwachsene «administrativ versorgt» hat, weil sie aus der Norm fielen.

Verminte Seelen bleibt auch für mich ein Highlight. Und wenn die Pandemie nicht dazwischen gekommen wäre, hätten wir das Stück zusätzlich am Zürcher Theaterspektakel und am Heidelberger Stückemarkt gespielt. Was mir ebenfalls wichtig war: das Schauspielstudio, also die Kooperationen mit der HKB Bern, die Autorinnenförderung mit dem «Dramenprozessor» und dem «Stücklabor». Auf diese Zusammenarbeit mit anderen Häusern und Institutionen bin ich schon etwas stolz, und sie hat St.Gallens Reputation in der Schweizer Theaterlandschaft spürbar erhöht.

Im Publikum bleiben aber weniger solche Hintergründe im Gedächtnis als starke Inszenierungen.

Dennoch: Wenn St.Gallen mit einer roten statt mit einer schwarzen Nadel auf der Theaterlandkarte verzeichnet ist, bringt das Rückkoppelungen. Was unsere insgesamt 86 Produktionen betrifft, so war der Triple-Hamlet zum Auftakt der ersten Spielzeit ein toller Einstieg und Zeichensetzung für das, was wir wollten. Bei der Kafka-Produktion war die Zusammenarbeit mit der Ernst-Busch-Hochschule Berlin ein Glücksfall. Grosse Freude hatte ich an Matto regiert, an Einige Nachrichten an das All, auch an Durcheinandertal oder an Endstation Sehnsucht, wo wir Theater und Film verknüpft haben.

Nicht nur Schweizer Autoren wie Glauser oder Dürrenmatt, auch Schweizer Themen waren eine Art roter Faden: mit Verminte Seelen, den fünf Kurzstücken Das Schweigen der Schweiz oder Lugano Paradiso über die Schweiz im Kalten Krieg.

Diese Schweiz-Auseinandersetzung hat uns Spass gemacht, dazu gehörten auch weitere Projekte von Vrenelis Gärtli bis zu Selig sind die Holzköpfe. Entscheidend war für mich insgesamt, Sprechtheater als multimediale, spartenübergreifende und möglichst alle Sinne ansprechende Kunst zu erproben. Ich finde, wir haben diesen «Blumenstrauss» an Theaterformen schön am Blühen erhalten. Auch die Monologreihe in Zusammenarbeit mit dem Kunstmuseum wäre zu nennen. Und weiterhin Freude habe ich am Container. Er ist eine Art Markenzeichen geworden für das Bemühen, hinauszugehen und einen direkteren, niederschwelligen Zugang zum Theater zu ermöglichen.

Erstaufführungen gab es in grosser Zahl, von Maria Ursprung, Maxi Obexer, Felicia Zeller, Konstantin Küspert, Sibylle Berg, Nils Momme Stockmann, Thomas Melle und allen voran Wolfram Lotz. Ist das St.Galler Publikum zu haben für Gegenwartsdramatik?

Die Erfahrung zeigte, dass Stoffe, die anschlussfähig für eigene Erfahrungen sind, am meisten Widerhall fanden. So wie Versetzung von Thomas Melle oder Frau Müller muss weg von Lutz Hübner, wo es um den Druck auf die Lehrpersonen geht. Das waren wichtige Produktionen, die wir viel gespielt und in zahlreichen Nachgesprächen vertieft haben. Im Grossen und Ganzen ist das Publikum gekommen, es gab neben Highlights aber auch Enttäuschungen. Generell ist es eine riesige Herausforderung, wahrgenommen zu werden. Wegen ein paar Werbe-Postkarten kommt heutzutage niemand mehr ins Theater. Man muss Zielgruppen ganz direkt ansprechen, das braucht je nach Stück andere Werbestrategien. Meiner Meinung nach ist das eine der grössten Herausforderungen für das Theater heute.

Also eine Frage der Werbung? Und nicht des fehlenden Interesses, weil die Mehrheit halt lieber Hamlet schaut als ein unbekanntes Stück?

Wir haben manchmal Publikum «verschenkt», das wir mit gezielter Werbung ins Theater hätten holen können. Es ist allerdings schon so, dass Klassiker, auch moderne, besser ziehen – ein bekannter Titel bringt die Menschen ins Theater. Ibsens Volksfeind war neben Frau Müller muss weg eine der erfolgreichsten Produktionen in meiner Zeit. Das Leben schwer gemacht hat uns aber auch die Pandemie. Bei der Lächerlichen Finsternis von Wolfram Lotz konnten wir die Premiere spielen, dann war Lockdown – und eine Wiederaufnahme ein Jahr später zu bewerben, ist schwierig. Sogar Fräulein Stark, ein Stoff, der ja sehr lokal verankert ist und anfangs sehr gut besucht war, kam bei der Wiederaufnahme ins Stocken. Die Aufmerksamkeit des Publikums zu erregen, ist etwas vom Schwierigsten. Aber unterm Strich haben wir sehr viel Zuspruch bekommen für unsere Arbeit hier.

Bei dem Stück, das von St.Gallen selber handelte, HotspotOst, musste man vermutlich nicht viel Werbung betreiben. Aber eine Debatte gab es in der Stadt nicht. Wo blieb die Auseinandersetzung?

Mit dem Projekt sind wir vermutlich nicht so ganz auf den Punkt gekommen. Die Entstehungsgeschichte litt zudem ebenfalls unter der Pandemie, es gab immer neue Varianten.

Ist es nicht so, dass diese Stadt grundsätzlich nicht aus der Ruhe zu bringen ist durch Theater?

Ja, vermutlich ist es so. Und wenn eine Aufregung entsteht, dann wegen eines Nebenschauplatzes. Wir hatten einen kleinen «Skandal», ausgelöst durch die Schepenese-Entführungsaktion von Milo Rau, die von uns mitgetragen wurde. Der Vorwurf lautete, hier werde mit Steuergeldern die Stiftsbibliothek «diskreditiert» und Partei ergriffen.

Ist das Theater St.Gallen ein Faktor in der Stadt?

Mein jüngstes Erlebnis in dieser Hinsicht: Nach der Premiere des Paula-Roth-Stücks Selig sind die Holzköpfe bin ich sehr oft angesprochen worden, auch von mir unbekannten Menschen, die zum Stück gratuliert haben. Das hatte ich zuvor in dem Ausmass nie erlebt. Relevanz hat das Theater nach meiner Einschätzung punktuell, wenn es wie bei den Verminten Seelen gelingt, tabuisierte Themen öffentlich zu machen. Und dann ist die Aufmerksamkeit wieder weg, manchmal für Monate. Schwer zu sagen, warum.

Regisseure wie Samuel Schwarz oder Milo Rau würden antworten: Theater müsse schneller, polemischer produzieren, mit Laien zusammenarbeiten, die «geschlossene Gesellschaft» von Profis sprengen…

Das ist ein möglicher Weg. Meine Nachfolgerin Barbara-David Brüesch verkleinert das Ensemble und will vermehrt auch mit Gästen und «Experten des Alltags» arbeiten. Meine Ideen für Erlangen gehen ebenfalls in diese Richtung. Ich glaube, eine gute Mischung zwischen Theater von und mit Profis und Projekten näher an den und mit den Menschen draussen: Das hat Zukunft. Allerdings ist der Zusatzaufwand gross, das haben wir erlebt, als wir mit dem Container durchs Rheintal getourt sind, mit Philippe Heules Spekulanten. Es ist nicht einfach, das Publikum in Altstätten oder Heerbrugg oder wo auch immer zu erreichen. Oder ein HotspotOst mit Laien: Das wäre natürlich extrem spannend, aber es wäre ein dreimal so aufwändiges Projekt geworden.

Weniger «Ausstattungswahnsinn», mehr Nachhaltigkeit, das ist ein weiteres Stichwort …

Ja, unbedingt!

Ist das St.Galler Theater nicht zu sehr abgeschottet in seinem «Betonbunker» – so schön der Theaterbau auch ist?

Es ist ein grossartiges Haus, durch die Architektur auch einladend für alle. Ich bin allerdings gespannt, wie sich die Rückkehr in den Bau mit seinen mehr als 700 Plätzen gestaltet. Wir füllen jetzt bereits das kleinere Provisorium mit seinen rund 500 Plätzen nicht immer, nicht einmal bei Musicals.

Immer noch die Folge von Corona?

Schwierig zu sagen – und auch darum finde ich gut, wenn ich gehe: Es ist wichtig, immer wieder frische Ideen, frische Gedanken hineinzubringen. Ein lebendiges Haus braucht neue Köpfe, immer wieder. Man verhockt leicht in einem solchen Stadttheater und hinterfragt gewisse Dinge nicht mehr, die man früher hinterfragt hat.

Zum Beispiel?

Allein das Abosystem: Wir spielen beispielsweise sonntags um 14 Uhr und abends nochmal, weil es die beiden Abos gibt, obwohl beide Vorstellungen nur halb voll sind. Abos sind schon gut, aber besser und für das junge Publikum attraktiver wären Halbtax-Abos, die nicht an Termine und an einen bestimmten Platz gebunden sind. Bloss will das traditionelle Abopublikum halt seinen immergleichen Sitzplatz haben.

Eines der Vermächtnisse von Direktor Werner Signer ist es, dass Musiktheater und Musical die erste Geige am Haus spielen, während das Schauspiel um seinen Platz insbesondere auf der grossen Bühne bangen musste. War das ein Kampf?

Ein Kampf nicht – aber die Sichtbarkeit des Schauspiels im Grossen Haus und überhaupt neben den Musicals zu wahren, war nicht immer so einfach. Früher hatte das Sprechtheater pro Spielzeit fünf Produktionen inklusive das Weihnachtsstück im grossen Haus. Inzwischen sind es noch drei, also nur zwei Erwachsenen-Produktionen. In dieser Spielzeit waren das Anna Karenina und Selig sind die Holzköpfe. Es ist eine Realität, dass das Haus schwierig zu füllen ist. Und die Grundauslastung durch die Abos ist längst nicht mehr die gleiche wie vor 15 oder 20 Jahren. Trotz alldem: Die grosse Bühne ist wichtig, damit man gross denken kann, auch im Sprechtheater.

Rolf Liebermann hat 1968 bei der Einweihung des St.Galler Theatergebäudes gesagt, es trage das «Signum der Gegenwärtigkeit». Hier könne Theater niemals nur «Museum» sein und sei verpflichtet, «mutige und unkonventionelle» Spielpläne zu bieten. Grundsätzlich gefragt: Was kann Theater in der heutigen Zeit, was kann es nicht?

Nach wie vor glaube ich sehr daran, und im besten Fall glückt es auch mir, dass Theater Themen der Gegenwart sinnlich und atmosphärisch erlebbar machen kann, Emotionen hervorruft und berührt. Das kann auch Musik oder Tanz; und das ist einmalig. Dafür braucht es das Live-Erlebnis. Und das Schöne ist, dass man nicht vor- oder zurückspulen kann. In einer Zeit, wo alles kurz und knackig sein muss, geht es hier darum zu verweilen.

Auch mal drei Stunden? Oder hat das Publikum nicht mehr genug Geduld?

Doch, das ist auch möglich. Theater heisst ja: Man wird im positivsten Sinn gebannt. Man bekommt Zeit, Ruhe und Konzentration geschenkt. Und man ist nicht allein, sondern bildet eine Schicksalsgemeinschaft mit vielen anderen. Dieses Sich-Zusammenfinden in einem Raum hat eine Magie. Die Hermetik eines Theaterhauses ist toll. Die Welt bleibt draussen. Oder nur ein ganz kleines Stück von dem draussen wird drinnen gezeigt, wie unter einem Brennglas. Theater kann Fiktionen und Vorstellungswelten erlebbar machen. Das Draussen interessiert mich aber genauso: das Spiel im Container, in Ladenlokalen oder in einem St.Galler Markthäuschen. Zu erleben, was passiert, wenn die Wirklichkeit in die Fiktion einbricht und umgekehrt: Auch das ist Theater.

Bei Peter Schweigers Abgang nach elf Jahren richtete das Theater St.Gallen eine Abschiedssoirée aus. Lukas Holliger, Thomas Hürlimann schrieben Stücke, Roland Moser komponierte. Was ist bei dir geplant?

Ich selber habe nichts geplant. Als letzte Premiere steht noch Zwischen den Welten in der Lok auf dem Programm, Barbara-David Brüesch inszeniert. Darin werden wir alle noch einmal vorkommen …

Dein Abschiedswunsch ans St.Galler Publikum?

Bleibt neugierig. Werdet noch neugieriger. Helft mit, dass es das Theater St.Gallen, dass es Theater überhaupt auch in 15, in 30 Jahren noch gibt. Denn Theater kann Visionen und Utopien, Modelle und Strategien für ein Leben in der Zukunft aufzeigen und so zu einem Ort werden, wo ein Ausprobieren des Lebens möglich wird.

Dieser Beitrag erschien im Juniheft von Saiten.

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