Im Sommer: Saiten schluckt alles
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Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie es zu Zeiten des Bierkartells gewesen sein muss, als die Schweiz noch in zehn Distrikte eingeteilt war und man nur das trinken konnte, was in der jeweiligen Region erhältlich war. Mittlerweile herrscht Vielfalt, auch wenn der Konsum rückläufig ist. Der Biermarkt ist jedenfalls ziemlich beschwingt: Im letzten Jahrzehnt sind in der Schweiz mehrere Hundert Klein- und Mikrobrauereien regelrecht aus dem Boden geschossen, und statt immer nur Lager trinkt man heute auch Pale Ale und Stout.
Nicht alle natürlich. Ich zum Beispiel mag das Bier weder zu süss noch zu bitter und am liebsten den ganzen Abend dasselbe, mit wenigen Ausnahmen. Jetzt sowieso, wo der Sommer endlich da ist, wo alle verreisen und die Festivalitis wieder grassiert, dieser Trost der Daheimgebliebenen. Bald werden die Nächte wieder ein einziges Getaumel, von Fest zu Fest und von Chlösti zu Quölli, weil man sich wahlweise entweder die Gesellschaft, das Wetter oder die Sommerfigur schönsaufen muss.
Zum Glück hab ich ein Sixpack. Das lässt man gerade noch durchgehen bei der Openair-Eingangskontrolle, denn im Sittertobel gilt bekanntlich die 3-Liter-Regel. Wer mehr braucht, muss zum Beizenpreis tanken. Und Schüga trinken, was den Juso nicht passt. Wieso die Einheimischen nehmen, wo es doch so viele Auswärtige gibt, könnte man sagen … und davon gibts massig: sympathische und andere, exotische und vertrautere, dunklere und hellere, oder mit anderen Worten: Biertechnisch wird hierzulande echte Vielfalt gelebt, wird Neues probiert und vieles gewagt – anders, als wenn es um Menschen geht.
Allein in der Ostschweiz gibt es derzeit über 50 Brauereien, wie unser Bierindex zeigt. Diese Zahl allein wäre schon Anlass genug für ein bierseliges Heft, und wenn man die drittschönste Nebensache der Welt auch noch mit der Arbeit verbinden kann, dann sowieso, schliesslich heisst es überall, dass Synergien zu nutzen sind – Frédéric Zwicker zeigt das exemplarisch in seinem berauschten Beitrag.
Dank unserer Degustation mit drei einheimischen Brauern durfte auch ich mich in Drunken Working üben, die Bilder dazu hat Ladina Bischof gemacht, und Gabi Gschwend sorgt für die beruhigende Erkenntnis, dass das Brauen eben doch nicht nur Männersache ist, nachzulesen auf Seite 23. Urs-Peter Zwingli versucht es topfnüchtern und Regine Rust von der Suchtfachstelle St.Gallen gibt Auskunft über den Rausch und die Suchtgefahr. Dazu passt vielleicht dieser Satz der belgischen Autorin Amélie Nothomb aus ihrem neuen Buch Die Kunst, Champagner zu trinken: «Einen Rausch sollte man nicht improvisieren. Sich zu betrinken ist eine Kunst, die Talent und Sorgfalt erfordert … »
Ausserdem im Heft: der Saiten-Sommerführer, illustriert von Luca van Grinsven und voll mit Tipps für allerlei kulturelle Pläusche in der Region, das grosse Interview zum 50-Jahr-Jubiläum der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St.Gallen und die Hintergründe zur Ostschweizer Anti-Atomkraft-Bewegung.
Volle Gönnung also. Aber das muss auch reichen bis Anfang September, denn in den kommenden Wochen trifft man Saiten, wenn überhaupt, nur biertrinkend in der Hängematte. Oder online natürlich. Hebed eu Sorg und auf bald!
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Blickwinkel von Tamara Janes
Stadtpunkt von Dani Fels
Erbsenzählen
Redeplatz
mit Martin Schmidt
Nachruf auf Hans Eberhard
Unser Bier
Delirium Tremens
Sechs Männer, zehn Biere, ein Plättli: Degustieren mit Profis.
von Corinne Riedener
Ein Prost auf Jaromir
Gabi Gschwend und ihre Störbrauerei.
von Frédéric Zwicker
Pfütze mit Granatapfelgeschmack
Ein Plädoyer für alkoholfreies Bier.
von Urs-Peter Zwingli
«Kleinbrauereien beleben die Szene»
Schützengarten-CEO Reto Preisig im Interview.
von Corinne Riedener
Professionelles Promille-Pauken
Schreiben im Rausch.
von Frédéric Zwicker
Risikokompetenz ist ihr Bier
Fragen an die St.Galler Suchtfachstelle.
von Peter Surber
Die Bilder zum Titelthema hat Ladina Bischof gemacht.
Perspektiven
Flaschenpost
aus Bergen von Timo Posselt
Appenzell Ausserrhoden
Toggenburg
Rheintal
Stimmrecht von Yonas Gebrehiwet
Ressourcen statt Reparatur
Das Gespräch zum 50-Jahr-Jubiläum der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St.Gallen.
von Peter Surber
A-tomkraft gleich B-Drohung
Die Ostschweizer Anti-AKW-Bewegung.
von Esther Meier
#Saitenfährtein: Rapperswil-Jona
Teil sechs unserer Besuche in der Agglo rund um Gross-St.Gallen.
von Peter Surber und Corinne Riedener
Kultursommer 2016
Ausgewähltes aus Musik, Literatur, Kino, Kunst & Co.
Den Sommerführer hat Luca van Grinsven illustriert.
Abgesang
Kehl buchstabiert die Ostschweiz
Kellers Geschichten
Charles Pfahlbauer jr.
Boulevard