Im Schlangenreich: Helen Meiers Märchen
Der Titel verspricht Buntes: Der weisse Vogel, der Hut und die Prinzessin. Das Buch fängt denn auch zauberhaft an – mit dem Märchen vom Jagdteppich, auf dem um Mitternacht die Tiere erwachen und sich begatten und belauern, bis Schlag eins der Spuk vorbei ist. Und es hört traurig auf – mit dem Schicksal der bedauernswerten Sklavin, die vom Fürsten verschmäht wird, sich vor Liebeskummer vom Fels stürzt und in den «ernsten silberzarten» Wermut verwandelt.
Nichts lässt sich halten
Dazwischen Erbauliches, Beklemmendes, Surreales, Traum- und Alptraumhaftes, Moralisches und Amoralisches, ein menschliches und tierisches Bestiarium, von dem bisher niemand gewusst hat. Geschrieben hat Helen Meier die Texte in den 50er-Jahren, wie Herausgeber Charles Linsmayer im Nachwort erläutert. Ein späterer Versuch der Autorin, sie bei ihrem Verleger Egon Ammann unterzubringen, scheiterte – die Typoskripte schlummerten in einem gelben Couvert, jetzt sind sie, wie die Tiere auf dem Wandteppich, wachgezaubert worden.
Die Autorin war damals Primarlehrerin in Mels – aber nur wenige Texte sind kindertauglich. So das lustig erzählte Märchen vom Hut, der auf Reisen gehen will und als plattgedrückter Schlapphut endet, oder die Geschichte vom Streit zwischen Sonne und Regen und vom Regenbogen, der die Harmonie wiederherstellt. Zumeist aber geht es bereits in diesen Märchen gnadenlos zur Sache, wie in den Erzählungen, mit denen Meier 30 Jahre später bekannt wurde.
Der Wunderbaum stirbt ab, als das Einhorn die Schlange ersticht, die in seinem Blätterdom lebt. Der Bauer muss der «Wurzelhexe» erst einen Fuss, dann einen Arm hergeben, damit seine Tiere nicht rebellieren. Die Prinzessin und ihr stummer Verehrer setzen im Liebestaumel die Insel ihrer Liebe aufs Spiel. Der Drachentöter erringt den Sieg um den Preis seines «Lebensglücks».
Das ist der Grundtenor dieser mit poetischer Kraft erzählten, überquellend ideenreichen und von Verena Monkewitz stimmungsvoll illustrierten Anti-Idyllen: Nichts lässt sich halten, Besitz nicht und Liebe nicht. Und wer sich ihnen ans Herz wirft wie der Müller, der vor lauter Verliebtheit in die Wassernixe seine Mühle vernachlässigt, der hat sein Schicksal verspielt. Das kommt gelegentlich, wie in diesem Beispiel, etwas platt moralisch daher. Zumeist aber fährt die Autorin ein Geschütz von Einfällen, krassen Wendungen, Zaubereien und Archetypen auf, die mehr mit Traumlogik als mit bürgerlicher Pädagogik zu tun haben. Gemütlich machen kann man es sich nirgends – auch nicht in der zufriedenen Tüchtigkeit des Bauern im Märchen Die Schlange im Fluss: Sein Land wird immer karger, bis die Schlange ein apokalyptisches Hochwasser durchs Tal jagt und ihn um ein Haar um Leib und Leben bringt.
Im Vorzimmer der Hölle
Kein Wunder, dass die Schlange das häufigste Emblem dieser dunklen Märchen ist. Sie freudianisch zu lesen, müsste ein eigenes Vergnügen sein. Dass sie in einer für die Autorin schwierigen Lebensphase entstanden sind, legt der Herausgeber im Nachwort dar. Die Vergänglichkeit, das «Nie mehr» unerreichbarer Hoffnungen zieht sich durch die Geschichten, und manchmal auch eine gewaltige Wut, am heftigsten in der Mondnacht, wo eine junge Frau, das Modell eines Malers, sich gegen den «schweinischen» Künstlermann auflehnt und ihn bestialisch umbringt – die düsterste, allerdings eher gequält geschriebene Moritat in dieser Sammlung.
Buchvernissage: 17. April, 17 Uhr, Gemeindehaus Trogen, mit einer Gratulationsrede von Franz Hohler.
Ausstellung mit Porträts der Autorin von Charles Linsmayer: 17. bis 30. April, Zellwegerstube Trogen
Meier erzählt nicht «aus dem Lande der Wunderwälder, der Zaubersprüche, der heilenden Segnungen, der sanften Mütter und der weisen Königinnen», wie es im Märchen vom Mann mit dem Hahn heisst. Sondern aus dem Vorzimmer der Hölle. Die vermeintliche Geliebte des Mannes schlägt dem Wunderhahn den Kopf ab und verwandelt sich in eine Hexe. Der Mann flieht Hals über Kopf von der «Stätte des Entsetzens und des Schreckens». Die Geschichte endet dann aber immerhin mit der Ahnung eines anderen, lichtvollen Orts.
Der hier leicht aktualisierte Beitrag erschien im Aprilheft von Saiten.