Im Reich der «tontons macoutes»

Eine Violine für Adrien: Gary Victor zeigt ein Land abseits der weltpolitischen Aufmerksamkeit. Am Freitag liest der haitianische Schriftsteller in der Buchhandlung Comedia in St.Gallen. 

Von  Eva Bachmann

Die Comedia in St.Gallen ist wohl die einzige Buchhandlung in einem weiten Umkreis, die ein Regal «Karibik» führt. Neben Kettly Mars, Yannik Lahens und anderen findet man dort zuverlässig Bücher von Gary Victor (*1958). Insbesondere seine Krimis mit Inspektor Dieuswalwe Azémar – dem Dirty Harry von Port-au-Prince – haben eine Fangemeinde. Und so überrascht es nicht, dass Gary Victor auf seiner Lesereise in St.Gallen Station macht und die traditionsreiche AfriKaribik-Reihe in der Comedia weiterführt.

In seinen Krimis und Romanen gibt Victor Einblick in das gesellschaftliche und politische Leben eines Landes, das in den Medien kaum noch auftaucht: Haiti. «Seit Jahren rutscht Haiti von einer Krise in die nächste. Schuld daran ist eine internationale Gemeinschaft, die wegschaut – und ein Staat, dem sein Volk schon lange egal ist», schrieb Gary Victor 2022 im Magazin «Kulturaustausch». Seit 2023 ist zwar eine UNO-Sicherheitsmission in Haiti stationiert, trotzdem grassiert weiterhin die Bandenkriminalität. Derweil haben gemäss World Food Programme 40 Prozent der Bevölkerung nicht genug zu essen.

Gary Victor: Eine Violine für Adrien. Litradukt-Verlag, Trier 2024.

Lesung: 4. Oktober, 20 Uhr, Buchhandlung Comedia, St.Gallen

In seinem neuen Roman Eine Violine für Adrien geht Gary Victor zurück ins Jahr 1971, in die Zeit der Ablösung des Diktators François Duvalier durch seinen Sohn Jean-Claude. Der Ich-Erzähler Adrien ist 14 Jahre alt, als er in einem Konzert Monsieur Benjamin Geige spielen hört und verzaubert ist von dieser Musik. «Illusionen können einem das Leben vermiesen», warnt der Vater von Anfang an. Doch Adrien darf zum Unterricht bei Monsieur Benjamin und wird dessen bester Schüler. Nach einem Jahr allerdings braucht er ein eigenes Instrument. Seine Eltern sind nicht in der Lage, ihm eine Violine zu kaufen, also beschliesst der Junge, sich das Geld dafür zu verdienen.

Gary Victor erzählt aus der Perspektive des 14-Jährigen von diesem unschuldigen Wunsch nach Schönheit und Kunst, der in den realpolitischen Verhältnissen des Landes zwangsläufig zum Verhängnis werden muss. Diesen Roman bevölkern Geldspieler und Lüstlinge, politische Günstlinge und Revolutionäre und viele «tontons macoutes», Milizionäre des Regimes, die willkürlich verhaften, misshandeln, töten.

Die Absurdität dieser Lebenswelt verdichtet der Autor einmal in einer magischen Szene, in der ein Hehler Adrien in ein Verlies wirft, wo er einem Automaten begegnet, der sich mit den Verhältnissen arrangiert und sich damit zum Handlanger des Systems gemacht hat. Als Adrien schliesslich zum Briefträger von Revolutionären und gleichzeitig zum Spion der Gegenseite wird, nimmt das Unheil seinen Lauf. Das brutale Ende wird ungeschönt erzählt.

Eine Violine für Adrien ist ein hartes Buch, die Hoffnungsschimmer verglimmen einer nach dem anderen. Mit dem Kontrast zwischen dem kindlichen Blick und den Gewalterfahrungen führt Gary Victor drastisch vor Augen, wie vollkommen gleichgültig diesem Staat sein Volk ist. Lesen ist eine Möglichkeit, hinzuschauen.