Im Rauschen der Tanzstadt
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Auch wenn der Winter die Stadt nicht sehr attraktiv, im Osten eher öde macht, Eis die Räder von den Strasse und die Schuhe von den Gehsteigen nimmt: Berlin rauscht. Ich rausche an den Menschen vorbei in die Menschenansammlungen, zu den Angeboten auf der Bühne. Suche Proberäume und Trainingsstudios und finde Tanz, Theater, Performance, Videoarbeiten, Neue Stimm-Musik in allen Varianten und an unterschiedlichsten Orten. Mir bleiben unzählige Möglichkeiten, aus verschiedensten Möglichkeiten das mir Mögliche auszuwählen.
Der Kopf steht auf Sturm, die Beine auch.
So schwimme ich von der Ausstellung im Martin-Gropius-Bau über Pina Bauschs Tanzarbeit mit Live-Aktion und Führung zur Travestie-Performance und bis hin zum Tanzfestival PURPLE für Kinder und Jugendliche.
Alain Platel, der Meister des Physical Theatre, besetzt die Bühne der Berliner Festspiele und das mit einer Compagnie aus unterschiedlichsten Nationen, wild und masslos – grossartig. Christoph Marthaler bringt mit seinem neuen Stück Halleluja die grossen Themen des Westerns – Einsamkeit und Freiheit, Nostalgie und Langeweile – auf die Bühne. Sasha Waltz zeigt im Radialsystem erstmals ihr Erfolgsstück aus dem Jahr 1996 Allee der Kosmonauten, ein bizarres Bild des Zusammenlebens dreier Generationen in einer Plattenbausiedlung, mitfühlend und ironisch, liebevoll und grausam zugleich.
Zeitgenössisches Tanztraining und Körperarbeit findet man/frau bei Labor gras, in der Tanzfabrik, im Mime Centrum, dem ada-Studio, im Dock 11 – die Angebote scheinen unendlich. Proberäume für die freie Tanz- und Theaterszene gibt es unter anderem im Theaterhaus Berlin, einem alten Schulhaus.
Ein geniales Werkhaus
Das Haus an der Wallstrasse ist zentraler Produktionsstandort und Kommunikationsplattform für freie darstellende Künste in der Stadt. Bereits vor 22 Jahren, kurz nach der Wende initiierte und betrieb das Kulturamt selber das Haus, Kooperationen kamen dazu. Als 2007 die Schliessung drohte, unterschrieben über 7000 Menschen einen offenen Brief, um den Bestand für die wichtige Infrastruktur zu fordern. Mittlerweilen erarbeiten rund 3000 Kunstschaffende der darstellenden Künste im Theaterhaus jährlich bis zu 350 Produktionen. Die «wilde Mitte» mit ca. 25 Proberäumen und einer Werkstattbühne wird heute von Christoph Bleidt und einem Team betrieben.
Das Haus wird von den Kunstschaffenden geschätzt, es ist preiswert, gut gelegen und erlaubt die Zusammenkunft von verschiedenen Künstlern und Disziplinen. Das minimalistische Setting hat eine bodenständige Berliner Art. Mit und ohne Vertrag kann man/frau hier für 3-5 Euro die Stunde 50-110 Quadratmeter Raum mieten.
Die Kunstschaffenden schätzen die preisgünstige Probemöglichkeit sehr. Massgebend dafür, wer im Haus willkommen ist, ist die Ernsthaftigkeit der Arbeit, sagt Christoph Bleidt. Auch grosse Häuser und darstellende Künstlerinnen mit temporärer Heimat hier in der Stadt mieten sich kurz- und längerfristig hier ein. Alle 14 Tage besteht montagabends die Möglichkeit, Prozesse und Arbeit auf der hauseigenen Bühne zu zeigen, zu schauen und zu reflektieren. Die Entwicklung der freien Szene wird wachsam mitverfolgt und immer wieder durch Umfragen ausgelotet.
Die nachhaltige Idee des Hauses hat Auswirkungen auf Szene, Nachfrage und Stadtkultur. Christoph Bleidt sagt: «Kultur ist vor allem Mittel zum gesellschaftlichen Austausch, ist Dialog über Werte, Utopien, Perspektiven, über die Art und Weise, wie wir miteinander leben wollen. Und der Gedanke der Subkultur ist der, dass sich Kultur immer wieder neu entwickelt. Alle, die Kreativität von aussen steuern wollen, haben da das Nachsehen.»
Der Tanzpuls einst und jetzt
Und… Berlin tanzt, ob in die Nacht, nach der Arbeit oder am Sonntagnachmittag. Beim Schwof in «Clairchens Ballhaus», bei einem Standard-Tanzkurs, Livemusik aus den 30igern und Kaffee und Kuchen, sind alle Generationen anzutreffen. Die Führung durch den legendären Spiegelsaal des Hauses oder das Swingorchester im Konzerthaus Berlin mit Stücken von Benny Goodman und Glenn Miller lassen das pulsierende Klima von früher erahnen.
Ich tauche durch die Zeiten, die Kids, in die U-Bahn und in viel Geschichte – um die Übersicht nicht ganz zu verlieren, helfen Mauerlauf und Turmbesteigungen. In den Strassen Sprachengewirr, auf dem Tempelhoferfeld Leere, trainierende Radrennfahrer, viele Zäune, ein riesiges leerstehendes Flughafengebäude und davor zwei kleine weisse Zelte mit Flüchtlingen. Es ist kalt.
Das Rauschen der Kulturen, der Kulturrausch lässt die Rollen und Instrumente auf den verschiedenen Bühnen wechseln, ganz rasch, alles treibt voran und die Zeit scheint knapp.
Gisa Frank, 1960, lebt in Rehetobel. Sie arbeitet mit dem Artist-in-Residence-Stipendium von Appenzell Ausserrhoden drei Monate in Berlin.