Im November: Saiten in Kellern
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«Ich bin ein kranker Mensch … Ich bin ein böser Mensch. Ein abstossender Mensch bin ich. Ich glaube, meine Leber ist krank. Übrigens habe ich keinen blassen Dunst von meiner Krankheit und weiss gar nicht mit Sicherheit, was an mir krank ist.»
So eröffnet der verbitterte Protagonist in Fjodor Dostojewskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) seinen Monolog. Es ist die Lebensbeichte eines Einzelgängers, der sich aus der Gesellschaft zurückzieht und sich in seinen erbärmlichen Petersburger Mietkeller verkriecht, angewidert vom unbändigen Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts und von der Utopie des kollektiven Glücks.
Auch Regisseur Ulrich Seidl hat vor allem die menschlichen Abgründe im Keller verortet, hier aber gerade in ihrer Umkehr: Menschen auf der Suche nach persönlicher, ganz privater Erfüllung. Noch bevor die grausigen Geschichten der Entführer Priklopil und Fritzl bekannt wurden, die Österreichs Keller nachhaltig ins kollektive Gedächtnis einprägen sollten, hat Seidl das Konzept für Im Keller (2014) geschrieben: eine semi-dokumentarische Portrait-Collage über Sadomaso-Fetischist:innen, islamophobe Waffennarren oder jene Hitler- und Blasmusikfreunde, die sich vor der Kamera die Kante geben. Erst im Erdreich, im Untergrund, quasi der Hölle nahe, abgeschirmt vor dem nach Ekel und Spektakel gierenden Blick der Öffentlichkeit scheint absolute Privatheit und individuelles Glück möglich. Nur hier können sich die Menschen dem hingeben, was sie sich öffentlich nicht getrauen.
Dabei waren Keller eigentlich schon immer in erster Linie die Räume, die der Menschheit in kargen Zeiten Nahrung bereithielten und damit das nackte Überleben sicherten. Im Keller lagert also auch das Gegenteil von dem, wofür man sich schämen müsste.
Im Herbst wird eingekellert. So ist auch für Saiten im November der Moment, in die düsteren Gemäuer hinabzusteigen. In Folterkammern à la Seidl sind wir zwar nicht gelangt, aber immerhin haben wir den tiefsten begehbaren Punkt im Gallenstädter Untergrund gefunden – oder auch: den absoluten Tiefpunkt St.Gallens. Philipp Bürkler geht den sub-, gegen- und widerstandskulturellen Spuren in der Kulturgeschichte des Kellers nach. Corinne Riedener hat Philipp Grob getroffen, der mit der Kelterei ein altes Handwerk in die Stadt zurückgebracht hat. Peter Surber hat sich gleich in zwei Kellern umgeschaut: in den Katakomben unter der Hauptpost und in den Gewölben der Trogner Steinpaläste. Zudem teilen drei schreibende Kellers ihre Keller-Gedanken mit uns: Hildegard, David und Christoph Keller erhielten je eine Carte Blanche. Für die Bildstrecke haben anonyme Menschen ihre Keller geöffnet und inventarisiert. Damit im Heft das voyeuristische Bedürfnis doch nicht ganz unbefriedigt bleibt.
Ausserdem im tiefgründigen November: die Flaschenpost aus Hongkong, die HSG-Mentalitätsbetrachtungen eines Direktbetroffenen, das Interview mit der abtretenden St.Galler Kantonsbibliothekarin Sonia Abun-Nasr, Kulturpreise für Schlagzeuger Carlo Lorenzi und Fotograf Mäddel Fuchs, Naegelis Totentanz und neue Musik von den Velvet Two Stripes und Crimer.
Roman Hertler
Der Inhalt:
Reaktionen
Viel geklickt
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Redeplatz mit Michael Schläpfer
Stimmrecht von Samantha Wanjiru
Pandemisch
In Kellern
Der Keller als Zelle des Underground? Das war nicht immer so. Erst durch die Postmoderne wurde der «Untergrund» zum Ort der Gegenkultur und des Exzesses. Von Philipp Bürkler
Gärprozesse im Kopf und im Fass: Philipp Grob keltert Naturweine in einem Keller mitten in der Stadt St.Gallen. Und hat immer Ärger mit Vögeln. Von Corinne Riedener
«D’Höll»: Der fast unbekannte Keller in der Hauptpost St.Gallen. Hauswart Rolf Metzger hat den Schlüssel dazu. Von Peter Surber
Wer in St.Gallen kann am tiefsten sinken? Das Ranking zeigt: die Tiefgaragen, das Kantonsspital und die Banken. Von Roman Hertler
Treppab ins 18. Jahrhundert: Trogens Steinpaläste haben stattliche Gewölbekeller. Von Peter Surber
Wer ist die Kellerin? Sie zapft die alten Fässer der Geschichte frisch an, denn sie verabscheut das Abgestandene. Von Hildegard E. Keller
Keller-Krise: Was, wenn der Name die eigene Einzigartigkeit nicht hervorhebt? Kann ein Schlüssel die Rettung sein? Von David Keller
Verborgene Tunnel und unterirdische Göttinnen: In die richtigen Keller gelangt man nur mit der Fantasie. Von Christoph Keller
Perspektiven
Nach Sonnenuntergang: Flaschenpost aus Hongkong, wo das Stadtbild geprägt ist von einer verstummten Demokratiebewegung. Von Dorothy Wong Ka Chung und Sebastian Ryser
Das «H» in HSG steht für den Habitus: Die Erzählung von höchsten Leistungsansprüchen handelt bei näherem Hinsehen von sozialer Selektivität. Und führt zu Papierkorbarbeiten. Von Oliver Kerrison
Neues Leben am Lichtensteiger Stadtufer: Das ehemalige Fein-Elast-Fabrikareal ist weitherum das grösste Umnutzungsprojekt. Doch es braucht Millionen. Von René Hornung
Kultur
Was bringt die künftige Public Library für Stadt und Kanton St.Gallen? Das Interview mit der abtretenden Kantonsbibliothekarin Sonia Abun-Nasr. Von Eva Bachmann
Spiritual Punk Lady im Anmarsch: Die New Yorker Dichterin und Reisende Louise Landes Levi beehrt den Kultbau St.Gallen. Von Tamea Wissmann
Soundtracks vom Polentone d’Oro: Carlo Lorenzi, Drummer mit Leib und Seele, erhält den Rheintaler Kulturpreis «Goldiga Törgga». Von Roman Hertler
Mit träfer Kamera: Der Fotograf Mäddel Fuchs erhält den Ausserrhoder Kulturpreis. Sein jüngstes Buch versammelt Trouvaillen aus 40 Jahren. Von Peter Surber
Hochkarätiges, ebenbürtig: Im Kunstmuseum Appenzell ist die Sammlung der St.Galler Galeristin Wilma Lock zu sehen. Von Kristin Schmidt
Philipp Bürkler verwandelt eine ehemalige Metzgerei in St.Fiden zur U-Bahn-Station und zum Transit-Ort für kluge Köpfe und Ideen. Von Corinne Riedener
Zwei Sommer nach der Veröffentlichung ist das dritte Album von Jeans for Jesus endlich live, im St.Galler Palace, zu erleben. Von Bettina Dyttrich
Velvetischer Westen: Die drei St.Gallerinnen von Velvet Two Stripes legen ihr drittes Studioalbum vor – das bisher beste. Von Claire Plassard
Eine Emo-Show, die Laune macht: Alexander Frei alias Crimer zeigt seine Fake Nails. Tanzbar wie gewohnt, aber auch mit düsteren Tönen. Von Corinne Riedener
Bodensee-Verflechtungen: Ein länderübergreifendes Team hat die Ausstellung «Mittelalter am Bodensee» geschaffen. Start ist im HVM. Von Roman Hertler
Der Mann, der als «Sprayer von Zürich» den bünzlig-tränigen späten 70er-Jahren den Meister zeigte: Harald Naegeli im Kino. Von Corinne Riedener
Neues von Bill, Kindheit zum Würgen, Dschihad der Liebe, Pantalla Latina, Riklins Freddie und November-Lyrik im Kulturparcours.
Abgesang
Kehls Kompass
Kellers Geschichten
Pfahlbauer
Comic