Im November: Saiten auf dem Bau.
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Als Kinder gab es für uns kaum etwas Verlockenderes, als auf der verlassenen Baustelle herumzustrielen. Wir konnten uns tagelang in irgendwelchen Rohbauten vergnügen; die Maschinen, Gruben, Leitungen und Keller erforschen, Hütten bauen, Versteckis oder Räuber und Poli spielen, Seilbahnen quer durch die Treppenhäuser spannen. Keine Ahnung, ob es damals auch «Betreten verboten!»-Schilder gab. Irgendwie sind wir immer durch die Gitter gekommen. Jedes Mal muss ich grinsen, wenn ich die kleine Narbe am Knie betrachte, die ich einem Armierungseisen verdanke. Das waren gute Zeiten.
Heute verursachen Baustellen bei mir eher gemischte Gefühle. Einerseits sind sie Sinnbilder für internationale Zusammenarbeit, für die Kreativität und den Gestaltungswillen der Menschen, für den wohltuenden Kreislauf von Zerfall und Erneuerung. Andererseits kann die Baustelle allzu auch oft ein Symbol der Verdrängung und Ausbeutung sein, für den menschlichen Grössenwahn und die Angst vor der eigenen Vergänglichkeit.
Auch in St.Gallen ist einiges los: Kürzlich wurde der neue Bahnhof eröffnet, ost- und westwärts werden Strassen aufgerissen, ein neues Spitalquartier wird gebaut und demnächst die Stadtautobahn saniert. Aktuell soll es auf städtischem Gebiet insgesamt 33 Baustellen geben. Seit einigen Monaten wird auch neben unserem Saiten-Büro fleissig gebaggert, gebohrt und gewerkt: Das letzte Haus im ehemaligen Handwerkerquartier an der Frongartenstrasse wurde abgebrochen. Nun sehen und hören wir Tag für Tag einem neuen, potentiell profitablen Wohn- und Geschäftsgebäude beim Wachsen zu. Laut, aber auch spannend und darum eine der tollsten Möglichkeiten zur Prokrastination in letzter Zeit – und die Inspiration zu unserem Novemberheft.
Der reale Baustellenalltag hat natürlich wenig zu tun mit den romantischen Kindheitserinnerungen, die wir wohl alle haben, sondern eher mit Konkurrenz- und Zeitdruck, harter Arbeit, Lohndumping und anderen politischen Krämpfen. Und auch in Sachen Frauen ist die Baustelle eine Baustelle. Mehr davon im Interview mit Gewerkschaftssekretärin Danijela Bašić auf Seite 24. Ausserdem kommen ein angehender Tiefbauer zu Wort, ein pendelnder Temporärarbeiter aus Sachsen und ein Bewohner des künftigen Ökoquartiers Les Vergers im Kanton Genf. Schliesslich: ein löbliches Beispiel für den Umgang mit alter Bausubstanz. Die Bilder zum Titelthema hat Linus Lutz gemacht.
Weiter im Heft: Ein Rundgang mit Sitterwerk-Chef Felix Lehner, der am 17. November mit dem Grossen Kulturpreis der Stadt St.Gallen ausgezeichnet wird, Überlegungen zu Kinder- und Menschenrechten und der Anti-Menschenrechts-Initiative, über die wir am 25. November abstimmen, ein gut gefüllter Novemberkalender und Post aus der Stadt der Bücher.
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Redeplatz
mit Stephan Schweiger
Stimmrecht von Nechung Engeler-Zingshuk
Herr Sutter sorgt sich… von Bernhard Thöny
Evil Dad von Marcel Müller
Innensichten:
La Buena Onda und Leonardo
Mensch Meyer
von Helga und Janine Meyer
Auf dem Bau.
Das Lebenselixier
Höchste Zeit für eine Kulturgeschichte der Baustelle.
von Peter Surber
Osten retour
Daniel ist Metallbauer in der Ostschweiz und pendelt jedes Wochenende nach Sachsen zu seiner Familie.
von Corinne Riedener
«Manchmal fehlt die Wertschätzung»
Noam Fels macht eine Lehre als Strassenbauer.
von Andri Bösch
«Man baut immer mehr, immer schneller, mit immer weniger Leuten»
Unia-Gewerkschafterin Danijela Bašić im Gespräch über den eskalierenden Streit in der Baubranche.
von Sina Bühler
Neuer Glanz für die Fifties – und den Pfau
Wie man mit alter Bausubstanz löblich umgeht.
von René Hornung
Leben auf einer Baustelle
Im Ökoquartier Les Vergers entsteht eine neue Welt.
von Pascal Mülchi
Die Fotos im Titelthema stammen von Linus Lutz.
Perspektiven
Flaschenpost aus New York.
von Rosario Florio und Larissa Kasper
«Abtreiben!! Und ein neues, gesundes Baby machen»
#perfectbaby #cutebaby. Aber was, wenn die Realität anders aussieht?
von Veronika Fischer
Was machen Hubers, Meiers und Müllers in Strassburg?
Essay zum Reportagenbuch Frau Huber geht nach Strassburg und zur Abstimmung über die «Selbstbestimmungsinitiative».
von Rolf Bossart
Kinder haben Rechte – und Ideen
Was, wenn Kinder gleichberechtigt mitreden könnten?
von Peter Surber
Kultur
Ein Rundgang durchs Sitterwerk mit Kulturpreisträger Felix Lehner.
von Peter Surber
Sackgasse Brexit:
Peter Stäubers neues Buch.
von Richard Butz
Die 10. Ausgabe des Filmfestivals Pantalla Latina.
von Urs-Peter Zwingli
Peter Mettlers berauschender Film Becoming Animal.
von Marcel Elsener
Interaktion, Dialog, Demokratie: das Playbacktheater St.Gallen.
von Andri Bösch
Dora Rittmeyer-Iselin erhält endlich ihre eigene Biografie.
von Peter Müller
Lichtungen: Vier St.Galler Lyrikerinnen in einem Band.
von Peter Surber
Valentina Stiegers Ausstellung in der Kunsthalle.
von Julia Kubik
Die neue Platte von
Lord Kesseli & The Drums.
von Corinne Riedener
Kulturparcours
Mixologie
von Niklaus Reichle und Philipp Grob
2 Gedichte im November
von Claire Plassard und Florian Vetsch
Abgesang
Kehl buchstabiert die Ostschweiz: eine Bilanz
Kellers Geschichten
Kreuzweiseworte
Pfahlbauer
Boulevard