Im Mutter-Lockdown

Die St.Galler Autorin Christine Fischer erzählt in ihrem neuen Buch «Herz.Kranz.Gefäss.» die Geschichte eines Abschieds. In die stille Auseinandersetzung der Tochter mit ihrer Mutter drängt sich die laute Pandemie hinein. Am Donnerstag ist Buchpremiere.
Von  Peter Surber

«Abstand» ist das Stichwort gleich in den ersten paar Sätzen. Die Tochter versetzt sich bewusst in die dritte Person, legt sich einen Erzähl-Namen zu: Luise. Das Mutterbuch, das sie schreiben will, soll sie nicht noch einmal in den Mutterschoss zurückbringen.

Fast zweihundert Seiten später besucht Luise mit ihrer Schwester Veronika die Mutter, die inzwischen im Altersheim im Sterben liegt und sich aus dem Bezug zu den Töchtern fast ganz zurückgezogen hat. Und Veronika stellt fest: «Ging es in unserer Familie nicht von allem Anfang an um Abstand? Litten wir nicht schon immer unter diesem Virus? Konnten wir uns nicht allmählich davon befreien, von dieser Abstandstümelei?» Luise selber spricht einmal vom «Fluch der Unberührbarkeit», der über der Familie gehangen habe seit jeher.

«Abstandstümelei», das ist eines dieser Wörter, wie sie typisch sind für die unbestechliche Beobachterin und Beschreiberin Christine Fischer – hier mit kritischem Unterton den Covid-19-Massnahmen gegenüber. Denn kaum ist der Erzählvorsatz gefasst, über die Mutter zu berichten im Moment, da deren Leben langsam «zur Neige ging», fängt jene «Erschütterung» an, «so tiefgreifend, wie es seit den beiden grossen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts nicht mehr der Fall gewesen war». Und zwingt die Tochter zum Abstandnehmen, als im Lockdown Besuche im Heim verboten werden.

Die Welle des Unheils

Christine Fischers neue Erzählung ist durch und durch ein Kind der Pandemie. Die Autorin findet immer neue bildhafte Umschreibungen des «Ereignisses», des «Geschehens», des «Ausnahmezustands». Ein Grollen, das zum Zittern, dann zum Beben wird… ein Säuseln, ein Sirren in den Hochspannungsleitungen, später ein dumpfes Trommeln, ein ohrenbetäubendes Dröhnen… die Welle des Unheils, die bald alles überfluten würde… die Schraube der Bedrohung… der tiefe Riss… die neue Grippe, die der «Wolf der Welt» geworden ist.

Christine Fischer: Herz.Kranz.Gefäss, orte Verlag Schwellbrunn 2021, Fr. 26.-.

Buchpremiere: 16. September, 18 Uhr, Raum für Literatur Hauptpost St.Gallen

Luise lehnt sich auf. Sie protestiert gegen die «Mauer», die das Virus aufbaut, klagt gegenüber ihrem Freund Helmut über die «hirnrissige Welt», in der Nähe schädlich und Distanz plötzlich heilbringend sein soll. Sie beobachtet an sich selber, wie Realität und Verstand auseinanderdriften, wie der Boden wackelt unter den Füssen, und protestiert gegen ein «Knastwort» wie «Lockdown». Sie reagiert mit regelmässigen Waldgängen auf den Zwang zur Distanz, gewinnt der plötzlichen Stille, der Natur und der nachbarschaftlichen Wertschätzung auch viel Gutes ab, registriert «kneippsche Wechselbäder von Freiheit und Einschränkung».

Und in einer Art parallelen Pendelbewegung ringt die Tochter, selber schon im Pensionsalter, um die Loslösung von ihrer Mutter. Merkt, wie schwer die Vorstellung für sie ist, bald ohne Mutter zu sein, und wie unvorstellbar es wäre, sie gerade in dieser Corona-Zeit der «Vereinzelung» zu verlieren. Luise «kämpft» um ihre Mutter, rebelliert mit ihren Geschwistern gegen das Besuchsverbot, sieht sie endlich wieder – und muss damit zurechtkommen, dass die Mutter inzwischen ihre Töchter kaum noch braucht und sich «die Macht herausgenommen hat, insgeheim eine andere zu werden».

Abgründe einer Muttersuche

Je näher der Tod der Mutter, desto schmerzlicher erkennt die Tochter ihre Ähnlichkeit mit ihr und die eigene lebenslange Unfähigkeit, wirkliche Nähe zu leben. Es ist eine höchst anspruchsvolle, so subtile wie abgründige Mutter-Tochter-Beziehung, die Christine Fischer in den zwei Figuren entwirft und im begleitenden Personal familiär vertieft – dem Lebenspartner, der sich im Lockdown von ihr trennt, ihrer Tochter und ihren Enkelinnen, den Schwestern.

So schillernd wie die Familienkonstellation bleibt die Einschätzung der Pandemie, schwankend zwischen Kritik an der verordneten «Halbgefangenschaft» und Wertschätzung für die Anstösse zum Umdenken, die das Virus gab – oder hätte geben können. «Niemand wird umhinkommen, sich mit der Zerbrechlichkeit der eigenen Existenz herumzuschlagen», heisst es gegen Ende des Buchs. Anderthalb Jahre nach dem ersten Lockdown ist von solchen existentiellen Covid-Folgen zumindest öffentlich kaum noch etwas zu merken.