Im Mai: Saiten im Stadtlabor
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«Die paradoxe Lage, in der wir uns befinden und über die ich mir seit Jahren den Kopf zerbreche, sieht so aus: Wir können als Bewohnerinnen und Bewohner der Moderne auf eine – vielfältig gebrochene und oft ambivalente, aber doch – atemberaubende Geschichte humanen Fortschritts zurückblicken und einen zivilisatorischen Standard in Sachen Freiheit, Teil habe, Sicherheit und Wohlstand geniessen, der historisch beispiellos ist. Aber der Stoffwechsel, auf dem dieser Fortschritt beruht, ist nicht fortsetzbar im 21. Jahrhundert, dazu ist er – für das Erdsystem, das Klima, die Biosphäre, die Meere, viele Menschen – zu zerstörerisch.»
Was Harald Welzer so in seinem neuen Buch Alles könnte anders sein umschreibt, heisst einfach gesagt: Wir verprassen zu viele Ressourcen und damit unser Glück. Drum sei es nötig, unseren «materiellen Stoffwechsel» zu verändern.
Kameraschwenk: von der globalen Grossperspektive in die Region, auf das Güterbahnhof-Areal in St.Gallen. Dort ist ein Projekt am Gedeihen und am Wachsen, das sich Lattich nennt. Wie die namengebende Pionierpflanze macht es sich auf einem Stück Brachland breit. Und wie diese ist es anspruchslos – zwar nicht inhaltlich und sozial, aber im materiellen Sinn. Der einfache Modulbau setzt auf wiederverwertbare Materialien, die Räume beanspruchen wenig Platz, man baut und denkt nicht für die Ewigkeit, sondern auf Zeit – dafür nachhaltig. Lattich ist, mit ortstypischer Verspätung gegenüber vergleichbaren Projekten in Zürich, Basel und anderswo, ein «urbanes Labor» im Kleinformat, ein Experiment in Sachen Zukunftstauglichkeit und Veränderung des «materiellen Stoffwechsels».
Seit drei Jahren entwickelt sich das Lattichprojekt, seit wenigen Wochen steht der Lattichbau unübersehbar da, Anfang April sind die ersten Mieterinnen und Mieter eingezogen, ein neues temporäres Arbeitsquartier ist am Werden. Grund genug, ihm das Titelthema dieses Hefts zu widmen. Es ist in Kooperation mit dem Verein Lattich entstanden und von diesem mit finanziert. Wir reden mit Initianten, Mieterinnen und Mietern, wir reden über «nomadisches Bauen» und stellen die grossen Pläne für die Halle auf dem Areal vor. Und Lattich ist nicht allein – zur Sprache kommen weitere Zwischennutzungs-Projekte in Altstätten und Rorschach und Wohnmodelle unter dem Stichwort «Anders wohnen». Im Lattich fotografierte Ladina Bischof.
Wer sich in solchen Projekten engagiert, funktioniert nicht als Solist. Auch davon spricht Harald Welzers übrigens explizit optimistisches Buch. Demokratie und offene Gesellschaft setzten auf Menschen, die «sich selbst und der Gesellschaft Vertrauen entgegenbringen und Verantwortung übernehmen. Einfach formuliert: Sie müssen das sichere Gefühl haben, dass sie Teil von etwas sind, von dem die anderen auch ein Teil sind.» Den Satz sollte man sich merken, als Gegengift zum populistischen Aufteilen, Spalten und Auseinanderdividieren.
Ausserdem in diesem Heft: Fluchtgeschichten, Wassergeschichten, Zirkusgeschichten und 1000 Ostschweizer Kulturtermine im üppig wuchernden Mai.
Peter Surber
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Redeplatz mit Fatima Moumouni
Stimmrecht von Farida Ferecli
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Innensichten
: August und Kaffeehaus
Schimpfis I–III
Im Stadtlabor
Im Lattich-Bau beim St.Galler Güterbahnhof treffen Architekten, Grafikerinnen, Künstler und ein Bestatter aufeinander.
Von Urs-Peter Zwingli
Rolf Geiger über die Geschichte des Lattich von der ersten Idee bis zum Bau. Und über das Glück des Ausprobierens.
Von Peter Surber
In situ baut temporäre Bauten wie den St.Galler Lattich. Pascal Angehrn sagt, warum einfache Bauten attraktiv sind.
Von Peter Surber
Arbeitstitel «Hektor»: Bald hat auch St.Gallen eine Eventhalle für knapp 1500 Personen.
Von Corinne Riedener
In Altstätten entsteht in einer ehemaligen Gärtnerei eine grüne Oase für Kultur, Natur und gemeinsames Arbeiten.
Von Roman Hertler
Das Feldmühle-Areal in Rorschach soll zum Wohn- und Gewerbequartier werden. Vorerst aber wird es kulturell zwischengenutzt.
Von Peter Müller
Generationenübergreifend, selbstverwaltet und autofrei wohnen: Warum haben solche Projekte
in der Ostschweiz so wenig Chancen?
Von René Hornung
Perspektiven
Flaschenpost aus Meran, vom Jugendparlament zur Alpenkonvention (YPAC).
Von Jens Weber
Die Organisation Viva con Agua setzt sich
für sauberes Trinkwasser und Aufklärung ein.
Von Andri Bösch
Kriminalisierte Hilfe: Die Grüninger-Stiftung zeichnet die Crew des Rettungsschiffs Iuventa aus.
Ein Riss in der Mauer der Festung Europa: Die Rede der Iuventa-Kapitänin Pia Klemp.
Bilder der Flucht: Die Ausstellung
des Bundes macht Station in St.Gallen.
Von Roman Hertler
Kultur
Zweimal Zirkus: der Porträtfilm Cirque
de Pic und die Lebensgeschichte der Artistin Josefina Tanas.
Von Peter Surber
Wider das Shareholder-Prinzip:
der französische Spielfilm En guerre.
Von Corinne Riedener
Kunst und Rausch: Hans Krensler portraitiert Malerinnen, Autoren, Schauspieler und Musikerinnen im Suff.
Von Roman Hertler
An den Rand gespült: Die Erzählung Im Meer treibt die Welt von Ruth Erat.
Von Gallus Frei-Tomic
Langsamer ist besser. Der St.Galler Pianist und Organist Bernhard Ruchti und sein A-Tempo-Projekt.
Von Marlen Saladin
Von Tribal Grooves bis Agenten-Comedy: das Strassenkunstfestival «Aufgetischt» in der St.Galler Altstadt.
Von Marion Loher
Vor 75 Jahren ist Schaffhausen bombardiert worden. Eine Ausstellung erinnert daran.
Von Roman Hertler
Kindererziehung ist Politik. Eine Ausstellung zeigt, wie Kinder die Welt sehen.
Von Urs-Peter Zwingli
Abseits der Vermarktungsindustrie.
Das Alternativ-Label AuGeil Records.
Von Roman Hertler
Was Lukas mit Gallus gemeinsam hat.
Von Corinne Riedener
Abgesang
Schalter
Boulevard
Kellers Geschichten
Kreuzweiseworte
Pfahlbauer
Comic