Im Klangkerker

Volle Reihen für eine Uraufführung: Selten findet moderne Klassik so viel Publikum. Der Grund hiess Alfons K. Zwicker. Im Pfalzkeller erklangen zwei Liedzyklen des St.Galler Komponisten, in denen es um Leben und Tod geht.
Von  Peter Surber

«Nicht ohne Dirigent»: So hätten die Musikerinnen und Musiker auf die ihnen zugesandten Noten reagiert, erzählt Alfons K. Zwicker einleitend im Pfalzkeller mit leiser Selbstironie. Verständlich, denn in Zwickers Partituren wechselt der Schlag oft von Takt zu Takt, mit 3/4-Seligkeit ist nie zu rechnen, eher mit 9/13-Komplikationen.

Ein Glück, dass mit Jürg Henneberger ein Spezialist für Zeitgenössische Klassik gewonnen werden konnte, der mit stoischer Ruhe und unanfechtbarer Präzision durch die beiden Werke führt. Ihm stehen ebenso ausgewiesene Instrumentalisten zur Seite – im ersten Zyklus ein klassisches Klaviertrio mit Philipp Meier, Ivana Pristasova und Martina Brodbeck, im zweiten eine experimentelle Kombination von Schlagzeug (Maximilien Dazas), Saxophonen (Vincent Daoud) und Akkordeon (Luca Piovesan).

Die Hauptfigur hier wie dort ist Bariton Andreas Scheibner. Der Sänger des Gerardo in Zwickers in St.Gallen aufgeführter Oper Der Tod und das Mädchen fasziniert erneut mit voluminöser und sinnlicher Stimme, mit einer dem Wort dienenden Ausdruckskraft und einer Gelassenheit noch in den tumultuösesten Partien des Abends.

Schreie und Beinah-Schweigen

Diese sind zahlreich – Zwicker hat sich einmal mehr Texte und Themen vorgenommen, bei denen es um nicht weniger als um Leben und Tod geht. Der erste Zyklus mit dem Titel Wir pflanzen hier Demut, 2017 in Zürich erstmal aufgeführt, verwendet Fragmente aus Gedichten von Nelly Sachs (1891-1970).

Die deutsch-jüdische Dichterin und Kabbalistin hat ein Leben lang darum gerungen, Worte und Bilder für die Menschheitskatastrophe des Holocaust zu finden. Einer der Zentraltexte dieser Auseinandersetzung ist das Gedicht Überlebende. Zeilen aus dem 1949 erschienenen Text verwendet der Komponist als Refrain, eine Art Klagelitanei mit dem berühmten wiederkehrenden Anfang «Immer dort, wo Kinder sterben».

Die aufs höchste geladene Metaphorik setzt Zwicker in nicht minder intensive Klangbilder um. Wo «die leisesten Dinge heimatlos» werden, finden auch die Streicher im Duett in ein hauchendes Beinah-Schweigen, ein berührender Kontrapunkt zum vorangegangenen Aufruhr. Das nächste Sterbe-Lamento artet in ein höllisches Klaviersolo aus, und wenn sich vom Sterben der Kinder «die Spiegel der Puppenhäuser mit einem Hauch verhängen», dann zieht für kurze, kürzeste Zeit gar ein Hauch von Romantik durch den Pfalzkeller.

Die Inhalte allerdings musste man, trotz klarer Diktion des Sängers, durch die aufgewühlten Klanggemälde hindurch zu erahnen versuchen – unverständlich, dass nicht an ein Textblatt gedacht worden war.

Nacht in tiefstem Schwarz

Schmerzensdissonanzen in noch heftigerer Ausprägung entwickelt der zweite Zyklus, der an diesem Abend seine Uraufführung erlebt. Zwicker hat Erinnerungen aus dem Verlies auf Texte des uruguayanischen Tupamarokämpfers und Dichters Mauricio Rosencof komponiert, der elf Jahre in Isolationshaft gesessen ist und aus diesem «Lebendig-Begrabensein» heraus Verse geschmuggelt hat. Teils poetisch, teils aus dem Gefängnisalltag geschöpft und mit einer scharfen Ironie, schlagen die Texte aus der unmenschlichen Lebenssituation vereinzelt Hoffnungsfunken.

Insgesamt dominiert aber eine beklemmende Stimmung. Das «wahnsinnige Auge der Nacht», wie es im ersten Vers heisst, gibt den tiefschwarzen Ton vor, illustriert durch ächzende Akkordeonklänge, zerrissene Saxmotive und bohrende Perkussion. Die Worte fallen auseinander, werden zu Silben und Lauten zerhackt, die Instrumente stammeln mit dem Sänger das fast nicht mehr Sagbare.

Das Schlagzeug führt Regie in einem Klangraum, der bald an Knochenklappern denken lässt, an Mauerzertrümmerung, an verzweifelte Versuche, die Ketten zu zerreissen. Und der zugleich dank der unkonventionellen Besetzung unerhörte Klangfinessen hervorbringt. Aber Ruhe ist nirgends, kurze lyrische Dialoge zwischen Schlagwerk und Akkordeon, zwischen Sänger  und Sax schlägt das nächste Klanggewitter kurz und klein.

In Zwickers rund halbstündigem Klangkerker gibt es kein Durchatmen, keinen Moment des Ungestörtseins. Die Zuhörer werden, mit einem Wort aus dem Stück, zu Compañeros des Gefangenen. Langer, bewegter Applaus.

Das Programm 2018 von Contrapunkt/Newart Music geht am 20. Juni weiter mit alter und neuer Musik auf alten Instrumenten.

contrapunkt-sg.ch