Im Januar: Alle, die da sind

Die iranisch-kurdische Familie zum Beispiel. Seit vier Jahren in der Schweiz, trotz anwaltlicher Beschwerden und zivilgesellschaftlichem Support mehrfach abgelehnt. Ausgeschafft werden die Mutter und ihre zwei Kinder aber nicht, da die Situation in Iran das nicht zulässt. Jetzt leben sie von der Nothilfe, irgendwo in der basellandschaftlichen Pampa in einer muffigen Zweizimmerwohnung. Wie und ob es im Sommer für die 20-jährige Tochter schulisch weitergeht, ist unklar, sie würde gerne studieren. Die Mutter engagiert sich für andere Geflüchtete und arbeitet als Küchenhilfe in einer Mensa. Für gratis. Wenn mich die Familienbande länger als ein Wochenende in St.Gallen besuchen will, müssen wir das bei der zuständigen Behörde zwei Wochen im Voraus beantragen. Bleiben sie auch unter der Woche hier, müssen sie in dieser Zeit selber für ihre Lebenskosten aufkommen.
Oder Lucia, die umtriebige Brasilianerin, die seit bald 30 Jahren in der Schweiz lebt und als papierlose Haushälterin und Tagesmutter schon etlichen Familien unter die Arme gegriffen hat – «vom Mittelstand aufwärts», wie sie sagt. Lucia kam mit 26 nach einem abgebrochenen Studium in die Schweiz und ist geblieben, als ihr Visum abgelaufen ist. Weil sie sich in dieses Land verliebt hat, auch wenn sie Angst vor den hiesigen Streifenwagen hat. Seither putzt und pflegt sie schwarz. Bei durchschnittlich zwei Familien pro Tag, für einen Stundenlohn von 25 Franken, bar auf den Putzhandschuh, ohne Abzüge und Vorsorge. Je nach Jahreszeit verdient sie so 2000 bis 2500 Franken pro Monat. Ihr grösster kleiner Wunsch: Ein eigenes Klingelschild mit ihrem Namen an der Wohnungstür.
Das sind nur zwei von unzähligen Beispielen. Der Bund geht von bis zu 105’000 Sans-Papiers schweizweit aus, genaue Zahlen gibt es nicht. Auch sie haben theoretisch ein «Recht auf Rechte», können diese aber kaum wahrnehmen, da die Angst vor einer Ausschaffung zu gross ist. Nach wie vor gilt: Kein Mensch ist illegal – Menschen werden illegalisiert. Dieser Zustand ist beschämend und unhaltbar, nicht nur angesichts der globalen Zukunftsaussichten. Darum ist es höchste Zeit, dass wenigstens die Städte etwas tun, um internationale Solidarität zu demonstrieren. Palermo zum Beispiel. Oder Hamburg, New York, Toronto. Sie alle beschäftigen sich mit den Themen Urban Citizenship und Teilhabe für alle – darum geht es in diesem Heft. Das betrifft nicht nur Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, das betrifft auch Jugendliche, Verbeiständete und letztlich uns alle.
Wir erklären, was es mit den Konzepten rund um Urban Citizenship und «Recht auf Stadt» auf sich hat, wir lassen jene zu Wort kommen, die Teilhabe und Solidarität dringend gebrauchen können, wir erkundigen uns in Bern, wo man um einiges weiter ist als wir in der Ostschweiz, und wir fragen, wie weit die Beratungsstelle für Sans-Papiers in St.Gallen ist und was das neue Partizipationsreglement bringen soll, das im Frühling ins Parlament kommt.
Warum? Weil man das neue Jahr mit guten Vorsätzen beginnen soll: Wir fordern eine City Card für Stadt und Kanton St.Gallen. Wir fordern das Jugendstimm- und -wahlrecht. Wir fordern ein Stimm- und Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer – jetzt. Weil alle, die hier sind, von hier sind. Weil alles andere den Namen Demokratie nicht verdient hat.
Ausserdem im Januar: die Chilenen vom Bodensee, Bäumlers Arche Noah, die Medikamentenversuche in der Ostschweiz, Pfahlbauers Inländervorrang und die junge Musikszene von Ghana.
Corinne Riedener
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Redeplatz mit Bastian Lehner
Stimmrecht von Farida Ferecli
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Happy New Year I + II
Alle, die da sind
Sanctuary Cities, Urban Citizenship und Recht auf Stadt: Was es mit diesen Bewegungen und Konzepten auf sich hat und was es bei der Umsetzung bräuchte.
Von Corinne Riedener
Man sieht es einem Menschen nicht an, ob er oder sie Sans-Papier ist. Man merkt es in den verletzlichen Momenten.
Von Mardoché Morris Kabengele
Eine abgewiesene äthiopische Familie verliert Sozial- und Nothilfe. Und auch die Behandlung ihres hörbehinderten Kindes wird gestoppt.
Von Roman Hertler
Rechte, Chancen und Möglichkeiten: Karin Jenni von der Beratungsstelle für Sans-Papiers in Bern im Interview.
Von Mardoché Morris Kabengele
Seit einem Jahr ist die IG Sans-Papiers in St.Gallen am Werk. Das Ziel: eine Anlauf- und Beratungsstelle.
Von Laura Cutolo und Gianluca Cavelti
Auch Schweizer Städte stellen Gerechtigkeitsforderungen auf. Zum Beispiel Zürich, Basel, Genf, Neuchâtel oder Bern.
Von Halua Pinto de Magalhães
Wer hier ist, ist hier und hat das Recht, gehört zu werden: Das neue Partizipationskonzept der Stadt St.Gallen.
Von Peter Surber
Dranbleiben und kämpfen: Luna Olibet wünscht sich ein Jugendstimm- und -wahlrecht.
Von Marion Loher
Vor knapp zehn Jahren forderte Milo Raus Theaterprojekt City of Change das Ausländerstimm- und -wahlrecht. Was bleibt?
Von Peter Surber
Perspektiven
Riesenbärenklau, Hundefänger und Hunger nach Kultur: Flaschenpost aus Georgien.
Von Ruth Wili
Exil-Chilenen organisieren ein Solidaritätskonzert für verletzte Demonstrantinnen und Demonstranten in der Heimat.
Von Stefan Böker
Tablettenfuttern in der Ostschweiz: Medikamententests wurden nicht nur in Münsterlingen durchgeführt.
Von Harry Rosenbaum
Kultur
Ausgestopfte Tiere, impressionistische Kunst und schlaflose Nächte. Hans Bäumler und seine «Arche Noah».
Von Roman Hertler
Das Fotomuseum Winterthur zeigt in der Ausstellung «Because the Night» die nächtliche Vielfalt.
Von Kristin Schmidt
Ghanas junge Musikszene und der postkoloniale Kampf ihrer Generation: Der Film Contradict von Peter Guyer und Thomas Burkhalter.
Von Corinne Riedener
Zehn Jahre Soul Gallen – eine Lobrede.
Von Florian Vetsch
Parcours: Junge Altmeister, 1525 mal die Welt, Entdeckungen im Tiefschnee und Hitchcock in St.Georgen.
Schalter Boulevard
Abgesang
Kalender
Kiosk
Kehls Kompass
Kellers Geschichten
Pfahlbauer
Comic von Julia Kubik