Im Februar: Du sollst nicht generalisieren
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Die Welt steht Kopf. Schon länger. Schuld daran ist «der Islam». Angeblich. Oder auch «der Westen», je nach Sichtweise. Seit dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» sind mehrere Dutzend Anschläge auf Moscheen verübt worden – «das Abendland» fürchtet sich vor der «schleichenden Islamisierung», die SVP dürfte sich die Hände reiben.
Das, was heutzutage unter dem Begriff «Islamismus» verstanden wird, nahm seinen Anfang vor etwa 80 Jahren. Durchgesetzt hat sich dieser Terminus erst Mitte der 1990er-Jahre, «und inzwischen geht er jedem Nachrichtensprecher geläufig von der Zunge», schreibt der Islamwissenschaftler Tillmann Seidenstricker. Der Salafismus als extreme Ausprägung davon sei sogar «erst um das Jahr 2000 von der westlichen Islamwissenschaft richtig registriert worden», die erste umfassende Publikation dazu, Global Salafism, wurde 2009 herausgegeben.
Wie dem auch sei: Experten gehen davon aus, dass nur etwa ein Prozent der Musliminnen und Muslime als radikal-islamistisch bezeichnet werden können. Demgegenüber stehen die rund 1,6 Milliarden Muslime auf der ganzen Welt. Ein Grossteil von ihnen, etwa 200 Millionen, lebt in Indonesien und hatte mit Megawati Sukarnoputri von 2001 bis 2004 – also noch vor Angela Merkel – ein weibliches Staatsoberhaupt.
Nützen tut uns dieses Beispiel wenig: Geht es um «den Islam», ist das Geschrei so ohrenbetäubend, dass wir uns gegenseitig längst nicht mehr verstehen. Das ist tragisch. Denn es gab einst durchaus fruchtbare Beziehungen zwischen «Ost» und «West», «Orient» und «Okzident», diesen zwei scheinbar so unterschiedlichen Welten. Heute scheinen sie Lichtjahre voneinander entfernt.
Entsprechend macht sich Ratlosigkeit breit: Darf man «den Islam» heute noch gut finden? Darf man ihn dennoch kritisieren, ohne gleich «pegidophile Neigungen» unterstellt zu bekommen? Darf man Islamophobie verurteilen, aber trotzdem auf Meinungsfreiheit pochen? Darf man fasziniert sein vom Koran?
Zur letzten Frage lieferte Friedrich Rückert, Koranübersetzer und Mitbegründer der deutschen Orientalistik, 1838 eine bestechend schöne und durchaus zeitgemässe Antwort:
Was wirkte gross und wirkt, kann in sich seyn nicht richtig:
Solang es dis dir scheint, sahst du es noch nicht richtig.
Doch richtig siehst du nie, wo du dich selbst verblendest,
Und nichts erkennest du, wo du dich stolz abwendest.
Komm, Sohn, und lass uns unbefangen, ohne voran,
Abzuurtheilen, auch urtheilen übern Koran.
Wol eine Zauberkraft muss seyn in dem, woran
Bezaubert eine Welt so hängt wie am Koran.
Lass näher treten und uns zusehn zauberfrei,
Ob es in Wahrheit nur ein böser Zauber sei.
Ob nicht in dieser Form auch eine Offenbarung
Des ewigen Geistes sei, für unsern Geist zur Nahrung.
Sein Aufruf zur Neugierde inspirierte uns – schon im November, als der Plan gefasst wurde – zu diesem vollgepackten «Islam-Heft»: Florian Vetsch hat Gedichte beigesteuert, Nahostkorrespondent Alfred Hackensberger zeichnet die wichtigsten Entwicklungen in der Arabischen Welt nach, Taner Tanyeri «entlarvt» den Koran als nicht-homophob, Adrina schickte uns ein Klagelied aus dem Südwesten Irans, Peter Müller suchte nach Islam-Spuren in der Ostschweiz, wir reden über Islam-Theorie und Alltagspraxis, und die Bildstrecke inklusive Cover von «2041» dürfte wohl das eine oder andere Klischee zünftig über den Haufen werfen.
Alles in allem: Ein Heft, das – hoffentlich – ein wenig Orientierung bieten kann in diesen stürmischen Zeiten. Und nicht zuletzt zum friedvollen Miteinander beitragen soll. Deshalb fordern wir als Nicht-Muslime getreu dem abendländischen Duktus: Du sollst nicht generalisieren.
Corinne Riedener
DER INHALT:
Reaktionen
Positionen
Blickwinkel von Katalin Déer
Redeplatz mit Anita Blöchliger Moritzi
Einspruch von Marcel Baur
Stadtpunkt von Dani Fels
Requiem auf einen Raum I + II
Islam
Wölfe, Pop & Renaissance.
Acht Kapitel über die Entwicklungen in der arabischen Welt.
von Alfred Hackensberger
Kapitalistische Kriegsführung.
Über die Barbarisierung von Weltreligionen.
von Rolf Bossart
Verliebt in den Schleier.
Zu den Bildern in diesem Heft.
von Georg Gatsas
Mit Kinderaugen.
Nuran und Kerem oder: Religion ist Auslegungssache.
von Corinne Riedener
Die künstliche Teilung der Welt.
Jamal Al-Din Al-Afghani und der politische Islam.
von Michael Felix Grieder
Wir lernten nie, ohne Angst zu leben.
von Adrina
Liwāt, Lot und lückenhafte Hadithen.
Der Islam und die Homosexualität.
von Taner Tanyeri
«Tataren-Schlatter» und «Orient-Mayr».
Die Ostschweiz und der Islam – eine Spurensuche im 19. Jahrhundert.
von Peter Müller
Gedichte
von Florian Vetsch
Fotografie zum Titelthema:
2041
Perspektiven
Toggenburg
Winterthur
Innerrhoden
Rheintal
Stimmrecht von Leyla Kanyare
Flaschenpost aus Jerusalem von Maria Schafflützel
Kultur
Was ist eine Bibliothek?
Architektur, Geschichte und Hoffnungen – einen Monat vor der Eröffnung der St.Galler Hauptpost-Bibliothek.
von Eva Bachmann, Peter Surber (Text) und Peer Füglistaller (Bilder)
Was darf Satire?
Kritische Fragen nach dem Attentat auf «Charlie Hebdo».
von Harry Rosenbaum
Zur Sonne, zur Freiheit!
Die Geschichte der Arbeiterhotels.
von Ralph Hug
Ein seltsamer Raum namens 4½.
St.Gallens neuer fröhlicher Off-Space.
von Nina Keel
Wie weit geht Selbstbestimmung?
Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern im Kino.
von Urs-Peter Zwingli
Unter dem Grabhügel
Alfons Karl Zwickers Orchesterwerk und die Orchesterförderung.
von Peter Surber
Weiss auf schwarz
Abgesang
Kellers Geschichten
Bureau Elmiger
Charles Pfahlbauer jr.
Boulevard