, 3. Juni 2022
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Im E-Bike-Paradies

Die Bodenseeländer wollen vorwärtsmachen mit der Verkehrswende. Wer hat die besten Velorouten, was sind Saiten-Würstle und warum macht Rorschach nicht mehr aus seiner Riviera? Der Erfahrungsbericht aus dem Juniheft.

Deutschland ist ein Autoland. Milliardenschwere Autoindustrie, null Tempolimit, autozentrierte Politik auf allen Ebenen. So war es zumindest jahrzehntelang, doch langsam kommt Bewegung auf die Strassen. Das Tempolimit ist plötzlich diskutabel, und dutzende Städte und Gemeinden haben Initiativen lanciert, damit Politik und Verwaltung velotechnisch endlich in die Gänge kommen. Baden-Württemberg hat 2016 eine Radstrategie verabschiedet und baut sein Radnetz für den Alltags- und Freizeitveloverkehr seither kontinuierlich aus. Bis 2030 soll das insgesamt 7000 Kilometer lange Netz vollständig sein.

Appell zum Velotag

Zum Weltfahrradtag am 3. Juni hat Pro Velo dazu aufgefordert, in der weltweiten Mobilitätspolitik umzudenken. «Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen für den Antrieb unserer Gesellschaften verursacht immense Schäden für unseren Planeten und für unser Klima – und nicht zuletzt auch für unseren Frieden und unsere Sicherheit. In diesen Zeiten wird mehr und mehr klar, dass das gute alte Velo sich als Lösung für unsere heutigen Probleme anbietet.»

Das neue Veloweggesetz, das ab 2023 gelten soll, biete dafür eine gutee Grundlage.

Auch die Schweiz will vorwärtskommen. Im März 2022, sieben Jahre nach der Lancierung der Velo-Initiative und dreieinhalb nach einem deutlichen Votum der Stimmberechtigten an der Urne, hat auch der Nationalrat dem Veloweggesetz endlich zugestimmt. Es verpflichtet die Kantone, innert fünf Jahren ein Velowegnetz zu planen und dieses innert weiteren 15 Jahren zu realisieren.

Die Romandie hat schon gut vorgespurt, in der Deutschschweiz ist der Weg noch etwas länger. Der Kanton St.Gallen hat zwar gute Konzepte in der Schublade, aber auch ein Ressourcenproblem (mehr dazu im Aprilheft 2021 von Saiten).

Baden-Württemberg und St.Gallen sind sozusagen Nachbarkantone bzw. -länder, dazwischen liegt nur der See. Perfekte Gelegenheit also für eine Bodenseerundfahrt aus beruflichen Gründen, um die Velowegverhältnisse der jeweiligen Länder zu testen. Und um herauszufinden, ob die seeübergreifende Zusammenarbeit auch in dieser Hinsicht funktioniert. Das gemeinsame Logo des Bodenseeradwegs – ein Velomensch mit blauem Hinterrad – ist für die nächsten drei Tage unser Wegweiser.

Halb im Tessin

Das erste Ziel: Zmittag in Bregenz. Der Start ist einigermassen unspektakulär; Autobahn, Altenrhein, Stadler Rail, China-Schiff, Campingplatz. Nach Gaissau lichtet sich langsam die Landschaft, endlich kommen wir ins Rollen. Schneller als erwartet pedalen wir über helle Kieswege durchs naturgeschützte Rheindelta, über die zwei Brücken nach Hard, und erblicken bald schon die ersten Häuseransammlungen, «die Banlieues von Bregenz», wie meine Begleitung meint, wobei ich eher von «Suburbs» sprechen würde, so gepflegt und begärtnert wie hier die Quartiere sind. «Fahrradstrasse» steht überall autogross auf dem Boden, Motorenlärm hört man selten und wenn, dann kommt er von Rasenmähern.

Nach einem Snack nahe der Bregenzer Seebühne, die sich derzeit für Giacomo Puccinis Madame Butterfly schick macht (Premiere am 20. Juli), gönnen wir uns einen Spaziergang entlang der Riviera, winken dem überdimensionalen Fliegenpilz beim Bahnübergang zu und stechen via Kunsthaus ins Städtli. Warum macht Rorschach nicht mehr aus seiner Riviera?, fragen wir uns. Hier in Bregenz wähnt man sich halb im Tessin, überall Gartenbeiz, Glace und Gelächter, während man in Rorschach vor allem von Autoposern, Bahnhöfen und Beton umgeben ist.

Die verbleibenden 20 Kilometer bis nach Lindau sind schnell abgerissen. Die Veloroute wird derzeit ausgebaut, weshalb wir einen Teil auf der Landstrasse fahren müssen, aber der Teil nach Lochau, der bereits besteht, hat den Namen «Velohighway» definitiv verdient. Punkt 16 Uhr stellen wir unsere Velos an das Geländer der Lindauer Hafenpiazza, wo reges Treiben herrscht. Überall wird angestossen und flaniert.

In wenigen Tagen wird hier der «Salzburger Stier» verliehen. Vielleicht sind deshalb die Hotelzimmer so rar, wir haben grad noch eines der letzten erwischt. Aber unabhängig davon scheint diese Insel mehrheitlich auf den Tourismus ausgerichtet zu sein. Das kopfsteinbepflasterte Patrizier-Altstädtchen birgt unzählige Einrichtungs-, Spezialitäten- und Modegeschäfte, darüber scheinbar teure Wohnungen, gerne mit Dachterrasse, Wand- und Deckenbemalungen. Das oft migrantische Personal in den Hotels und Restaurants hier dürfte seinen Lebensmittelpunkt woanders haben.

Umringt von biodiversen Hecken

Tag zwei ist mit 100 Kilometern die längste Etappe. Wir rechnen mit Regen, starten drum zeitig, werden aber trotzdem kurz abgeduscht. In den nächsten zwei Stunden heissen die Autos LI*NA, LI*SA oder LI*BE, die Strassen heissen Krokusweg, Narzissenweg oder Orchideenweg und die anderen Orte heissen irgendwas mit «See»; Seminarhaus am See, Pension am See, Seehotel Schiessmichtot und so weiter. Die Sonne kehrt zurück und die Natur ballert raus, was sie hat. Alles steht in voller Blüte; Goldregen, Obstbäume, Kräutergärten. Auch die Häuser unterwegs – oder besser: Anwesen – erschlagen uns mit ihrer Pracht.

Was ist der Bodenseeraum, wie funktioniert er, wo klemmt es? Für die Juniausgabe hat Saiten den See dreifach umrundet, per Velo, mit der Bahn und mit dem Töff. Anlass ist das 50-Jahr-Jubiläum der Internationalen Bodenseekonferenz IBK. Hier die erste Rundtour.

Nonnenhorn, Kressborn, Langenargen. Ferienorte wie im Bilderbuch. Aber hier leben, erträgt man das? Immer wieder stellen wir uns diese Frage. Ab 70 vielleicht, wenn überhaupt. Dieses Idyll hat reichlich wenig zu tun mit der «realen» Welt, hier zelebriert mensch den «Rückzug ins Private», umgeben von biodiversen Hecken, permakulturellen Strassengräben, weinberankten Carports und Bündnis90/Grün-wählenden Nachbarn mit privater Altersvorsorge. Hier muss man sich schon Mühe geben, um anderen Lebensrealitäten nahe zu kommen, etwa migrantischen oder armutsbetroffenen Menschen.

Zugegeben, wir freuen uns, als wir in Friedrichshafen ankommen und in einem bisschen schäbigen Biergarten Fleischkäs-Burger und Wienerli (nur bestellt, weil sie «Saiten-Würstle» heissen) verdrücken, untermalt von italienischen Canzoni aus billigen Boxen. Hurra, das Stadtfeeling ist zurück und mit ihm auch die hässliche 80er-Jahre Architektur und die leise Angst, dass unsere Satteltaschen weg sind, wenn wir zu unseren Velos zurückkommen. Ein gutes Gefühl, aber wir dürfen nicht lange rasten, denn bis zur Reichenau, wo wir übernachten, sind es noch über 70 Kilometer.

Velostrassen, doppelspurig!

Die Velowege auf der deutschen Seite des Sees sind ein Traum. Mehrheitlich zumindest. Wenn sie nicht direkt am See entlangführen, sind sie mit meterbreiten Grünstreifen von der Hauptstrasse abgetrennt, inklusive weisser Markierung und Kiesstreifen rechts und links, teilweise sogar doppelspurig oder mit Leitplanken. Von solch sicheren Fahrbahnen können wir in der Ostschweiz nur träumen (noch). Einziger Nachteil: In den Ortschaften führen die Routen teilweise im Zickzack an allen möglichen Kreuzungen und Restaurants vorbei. Das ständige Bremsen und Beschleunigen mindert den Fahrfluss und kostet Kraft (und Kilometer), ist aber sicher förderlich für die lokale Wirtschaft, da man durchaus spontan mal einkehrt an einer hübschen Ecke.

Grüsse vom Velo-Highway Richtung Allensbach.

Damit sind wir bei der Frage nach dem politischen Willen für diese Verkehrswende angelangt. Ich würde gerne glauben, dass die Politik die Zeichen der Zeit endlich erkannt hat und den Fuss- und Veloverkehr im Sinne der ökologischen Nachhaltigkeit fördern will, auch mit ordentlich finanziellen Mitteln. Meine Begleitung ist da wesentlich abgeklärter und sagt: «Mach dir keine Illusionen, es geht nur übers Portemonnaie. Gäbe es nicht so viele Velotourist:innen hier, hätte man zumindest den Bodenseeradweg nie so schnell und gründlich ausgebaut. Die Politiker:innen hier sind nicht grüner als die in der Schweiz.»

Apropos Velotourist:innen: Schätzungsweise 90 Prozent unserer Gefährt:innen in diesen drei Tagen sind auf E-Bikes unterwegs. Auf dickbereiften Mountainbikes mit Lenkern so breit wie bei Harleys düsen sie uns entgegen, die meisten deutlich in der zweiten Lebenshälfte, top ausgerüstet mit Visierhelm und Funktionskleidung, gerade aufgerichtet und mit einem entrückten Lächeln im Gesicht. Wozu die Funktionskleidung?, fragen wir uns, die schwitzen doch gar nicht, ganz im Gegensatz zu uns mit unseren «Bio-Bikes».

Als wir nach einer kurzen Kletterpartie über den Bodanrück auf der Reichenau ankommen, ist es bereits halb sechs. Der Rückenwind hat uns über den Damm getragen und langsam lockern die Beine. Die Klosterinsel mit den vielen Gewächshäusern ist die grösste Insel des Bodensees, misst aber gerade einmal 4,3 Quadratkilometer. Auch hier: pures Idyll, aber abgesehen vom Kloster recht landwirtschaftliches Flair und viel Auslauf. Der Spaziergang zum Znacht tut uns gut, zum Apéro gibts Bodensee-Bio-Inselbier und Wein von der örtlichen Winzergesellschaft.

Die grosse Gemeinsamkeit

Tag drei führt uns via Untersee zurück nach St.Gallen. Eigentlich. Aber die leider langweilige Bodensee-Veloroute von Konstanz nach Rorschach kennen wir schon zur Genüge und das Wetter ist so fabulös, dass wir uns nach dem Fischknusperli-Zmittag in Stein am Rhein für Plan B entscheiden: Bädelen in der deutschen Enklave Büsingen und danach weiterradeln bis nach Schaffhausen, das 2018 den Vorsitz der Internationalen Bodenseekonferenz hatte.

Das Lido in Büsingen ist ein Geheimtipp, die Abkühlung im Rhein ein Segen. Es fällt uns schwer, nochmals aufs Velo zu steigen, auch wenns bis Schaffhausen nicht mehr weit ist. Im Zug nach St.Gallen lassen wir die 260 Kilometer Revue passieren. Im Vorarlberg und in Deutschland sind die Velorouten definitiv besser, sprich: sicherer, ganzheitlicher und grosszügiger geplant, vor allem die neuen Routen des Baden-Württembergischen Radnetzes. In der Schweiz dagegen wirken sie ein wenig improvisierter (noch), teilweise muss man sich mit einem Velostreifen auf der Hauptstrasse zufriedengeben, dafür ist die Orientierung bzw. die Ausschilderung oft besser.

Auffällig ist, dass es in Österreich und Deutschland gefühlt an jeder Kreuzung eine Beiz oder eine Bude zur Verpflegung hat, meistens mit extra angeschriebenen Veloparkplätzen. Hier kann sich die Schweiz noch eine dicke Scheibe abschneiden. Seeübergreifend haben aber alle mindestens etwas gemeinsam: die vielen Senior:innen auf E-Bikes.

Dieser Beitrag erschien im Juniheft von Saiten.

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