, 25. November 2021
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Im Dezember: Verinnern und Ergessen

Delete, Demenz, Trauma und Gedächtnis: Ein Heft mit Szenen vom Erinnern und Vergessen. Ausserdem: INES und der Stolz auf den Migrationsvorsprung, neue Töne von Projekt ET aus Wil und letzte Töne von Flieder.

Im fünften Akt von Faust II drückt Goethe definitiv die Delete-Taste: Faust, verärgert über Philemon und Baucis, deren Hütte auf seinem Grundstück steht, zwingt Mephisto, sie zu vertreiben. In dessen Name bringen die drei «gewaltigen Gesellen» das alte Paar um und gleich auch noch Zeus, der als Wanderer unerkannt dabei ist.

Schluss mit allem Alten: Fausts Tat nimmt prophetisch den Verlust einer Erinnerungskultur vorweg, der in der Barbarei der Nazis hundert Jahre später ihren katastrophalen Höhepunkt erreichen wird. «Es gilt das gebrochene Wort», schreibt Manfred Osten zu dieser fatalen Entwicklung einer «Gesellschaft ohne Gedächtnis» in seinem Buch Das geraubte Gedächtnis (2004 im Inselverlag). Dort zeichnet er die Tradition solcher Auslöschungsakte nach. Am rabiatesten packte die Französische Revolution das Projekt an. Sie warf den christlichen Kalender auf den Müllhaufen der Geschichte und begann die Zeitrechnung neu: 1792 wurde kurzerhand zum Jahr 1 erklärt. Weg mit den vermeintlichen «Fesseln» der Vergangenheit.

Seither schritt nach Ostens Meinung die Geschichtsvergessenheit unaufhaltsam voran – mit dem vorläufigen Ende der Digitalisierung als «grandioses System der Selbsttäuschung», was die angebliche Gedächt- nisentlastung betreffe. Computer können zwar speichern, aber nicht memorieren. Dass sie ihrerseits technisch veralten und das Gespeicherte damit verlorengehen kann, ist das andere Problem.

Was Goethe ebenfalls schon ahnte, ist der Treiber dieses Gedächt- nisverlusts: die Beschleunigung oder bei ihm: «Velofizierung». Von ihr befürchtete auch Nietzsche das Schlimmste. «Selig sind die Vergesslichen, denn sie werden auch mit ihren Dummheiten fertig», lästert er in Jenseits von Gut und Böse.

Gut? Oder böse? Dem janusköpfigen Vergessen ist dieses Heft gewidmet, samt Seitenblicken auf das Erinnern. Wir tauchen ins digitale «Meer des Vergessens»; Florian Wüstholz sortiert die ethischen und technischen Fragen, die sich dabei stellen, und umreisst die Chancen des Löschens. Wir reden mit Betroffenen und Fachleuten über Demenz, die Krankheit des Vergessens. Wir fragen, was Traumata im Kopf und im Körper anrichten. Historiker Stefan Keller schreibt über familiäre und kollektive Erinnerungspolitiken, Autorin und Musikerin Jessica Jurassica gräbt in psychische Abgründe. Die Saiten-Grafik hat ikonische Bilder der jüngeren Zeitgeschichte bearbeitet und lädt zum Gedächtnistest: Was fehlt? Zwischen die Beiträge sind Post-its gestreut: persönliche Notizen zum Vergessen und Behaltenwollen.

Ausserdem im Heft: Interviews zu INES, der Schweiz mit Migrationsvorsprung, und zur Frage, was Aufrüstung und Klimaerwärmung miteinander zu tun haben (viel!). Die Flaschenpost aus dem Flüchtlingslager auf Lesbos (nie vergessen!), Kunst gegen die Umweltzerstörung in Bregenz (nicht verpassen!), Musik-, Buch- und Kinoneuheiten sowie der Kulturkalender mit allen Veranstaltungen, die der Pandemie trotzen, wer weiss, wie lange noch (Daumen drücken!).

Für manche war das zweite Pandemiejahr ein Jahr zum Vergessen. Was hingegen in Saiten aus unserer Sicht an Erinnerungswürdigem stand, davon ist eine Auswahl auf Seite 13 zu lesen: Gute Sätze 2021.

Peter Surber

 

Der Inhalt:

Reaktionen
Viel geklickt
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Warum? von Jan Rutishauser
Redeplatz mit Simone Brunner
In eigener Sache
Gute Sätze 2021 – Best of Saiten

Verinnern und Ergessen

Remember to forget: Das Internet, das nie vergisst, und wie es um das Gedächtnis in der digitalen Gegenwart und Zukunft steht. Von Florian Wüstholz

Geflüchtete haben oft traumatisierende Erfahrungen durchgemacht. Beim Zentrum für Psychotraumatologie kennt man sich aus damit. Von Emil Keller

Vergessen steht am Anfang einer Demenz. Esther Diem hat es erlebt – bei ihrem Mann. Ein Gespräch über Frühdemenz im St.Galler mosai!k. Von Peter Surber

Neurologe Ansgar Felbecker im Interview über die Ursachen von Demenz – und wie eine demenzfreundliche Gesellschaft aussehen müsste. Von Peter Surber

Bildikonen der Zeitgeschichte – aber fehlt da nicht etwas?

Das Basler Museum der Kulturen dokumentiert in seiner Dauerausstellung Gedächtnispraktiken rund um den Globus. Von Peter Surber

Familiäre Erinnerungsfetzen – und kollektive Gedächtnispolitik als Versuch, die Geschichte der Opfer dem Vergessen zu entreissen. Von Stefan Keller

Vergessen, erinnern, verzweifeln, Krone richten, weitergehen … Wohin mit den ganzen Prägungen und Traumata? Von Jessica Jurassica

Post-its. Von Sam Assir, Laura Cutolo, Diana Dengler, Hans Fässler, Christine Fischer, Sascha Rijkeboer, Mark Riklin, Miriam Rizvi, Florian Wüstholz und Luisa Zürcher.

Perspektiven

Gebrochene Flügel: Flaschenpost aus Lesbos, ein Jahr nach dem Brand in Moria, wo die Menschen auch im neuen Camp unter unwürdigen Umständen leben. Von Arno Tanner

Für eine Schweiz, die stolz ist auf ihren Migrationsvorsprung: Das Handbuch Neue Schweiz und das Interview mit INES-Co-Präsidentin Tatiana Cardoso. Von Corinne Riedener

Wie die Rüstungs- und Militärindustrie die Klimakrise anheizt und was Frontex damit zu tun hat: Die Aktivist:innen Nadia Kuhn und Jonas Kampus im Interview. Von Corinne Riedener

Kultur

Mit Planet Erdbeertörtli legen Projekt ET aus Wil ein leichtfüssiges Album vor – das ein paar Provinzdinge geraderückt. Von Matthias Fässler

Noch einmal Flieder: Einein- halb Jahre nach dem Tod von Drummer Thomas Troxler gibt es ein letztes Album. Von Roman Hertler

Im Kunsthaus Bregenz zeigt die nigerianische Künstlerin Otobong Nkanga, was die Antwort der Kunst auf die Umweltzerstörung sein kann. Von Kristin Schmidt

RAF und Jurakonflikt: Im Roman Staatsräson lässt Daniel de Roulet einen illustren Ermittler recherchieren – Niklaus Meienberg. Von Peter Surber

David Signer versammelt im Buch Afrikanische Aufbrüche 18 Porträts von Menschen, die das Unmögliche versuchen. Von Florian Vetsch

Morseküsse: Der wunderbare Film Gagarine ist eine Hommage an die Pariser Banlieue und an die Macht der Vorstellungskraft. Von Corinne Riedener

Henry Dunants Jahre als Kolonialist in Algerien werden in der neuen Ausstellung im Dunant Museum Heiden aufgearbeitet. Von Roman Hertler

Unheilige Nacht, gespenstige Weihnacht, entschleunigte Hummeln und schweisstreibende Aliens im Kulturparcours.

Abgesang

Kellers Geschichten
Pfahlbauer
Comic

 

1 Kommentar zu Im Dezember: Verinnern und Ergessen

  • Peter Honegger sagt:

    Bin gespannt und neugierig.
    Werte die ich mir auch in dieser Zeit bewahre.
    freu mich auf: Seite 13 zu lesen: Gute Sätze 2021.

    lg Peter

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