Im April: Saiten im grünen Gallustal
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Es ist jetzt eineinhalb Jahre her, seit der Baum vor unserem Balkon und ein paar Meter weiter ein zweiter Baum verschwanden. Ein Nachbar hatte erwirkt, dass sie gefällt werden mussten, weil sie zu nahe an seinem Grundstück standen. Schon seit rund 20 Jahren, wohlgemerkt. Aber nun seien sie zu gross und ihre Kronen zu üppig geworden, sodass sie zu viel Schatten in des Nachbars Garten warfen. Vom ökologischen Wert der Bäume wollte er nichts hören, schon gar nicht vom ästhetischen. Und weil das Nichteinhalten des Grenzabstands nicht verjährt, mussten die Bäume weichen.
Immerhin: Die Ausweitung des Baumschutzes für Bäume mit einem Stammumfang von 80 Zentimetern (einen Meter über dem Boden) auf die ganze Stadt St.Gallen ist im Trockenen. Die Stimmbevölkerung sprach sich mit einer deutlichen Zwei-Drittel-Mehrheit dafür aus. Das ist ein starkes Signal an die bürgerlichen Parteien und Verbände, die das Vorhaben bekämpft hatten. Ihre Hauptargumente: Eingriff in die Eigentumsgarantie, Erhöhung der Bürokratie. Ob man das überhaupt als Argumente bezeichnen will, sei dahingestellt. Die neue Regelung bedeutet ja noch lange nicht, dass kein betroffener Baum mehr gefällt werden darf, im Gegenteil. Es besteht aber sehr wohl ein öffentliches Interesse daran, grosse Bäume besser zu schützen. Denn das Thema betrifft die Gesellschaft als Ganzes.
Der Baumschutz ist aber erst der Anfang. Wie es mit der ökologischen Aufwertung von St.Gallen weitergehen könnte, ja weitergehen muss, zeigt «Grünes Gallustal». Die Studie listet eine Vielzahl von Massnahmen auf, die helfen sollen, den Klimawandel und seine Folgen (Überhitzung im Siedlungsgebiet, Verlust der Biodiversität, Trockenheit etc.) zu bekämpfen. Saiten beleuchtet darum – in Kooperation mit dem «Grünen Gallustal», das dieses Heft zusammen mit Leica Geosystems, Teil von Hexagon, mitfinanziert hat – die wichtigsten Ziele, mögliche Wege dorthin und Hindernisse, die es zu überwinden gilt. Leica Geosystems war auch am «Grünen Gallustal» mitbeteiligt und hat ein 3D-Modell auf Basis einer Lidar-Punktewolke erstellt. Die Zukunftssituation wurde innerhalb des Modells simuliert. Digitale Flugstrecken zeigen die Schauplätze und Veränderungen aus der Luft. Das Resultat ist ein 35-minütiger Studienfilm mit Erläuterungen und Visualisierungen zur Veranschaulichung der vorgeschlagenen Massnahmen.
Die Visualisierungen sollen letztlich auch helfen, die Bevölkerung ins Boot zu holen. Denn diese muss mithelfen, die Stadt grüner zu machen, sonst lassen sich die Ziele nicht erreichen. Dass es auch nicht ohne eine Verschärfung der Bauordnung geht, ist ebenfalls klar. Wer baut und Grünraum in Anspruch nimmt, muss einen ökologischen Ausgleich leisten.
Passend zu diesem Thema hat Philipp Bürkler die Politökonomin und Transformationsforscherin Maja Göpel getroffen, eine Vordenkerin des sozial-ökologischen Wandels. Sie erklärt, wie Klimakrise und soziale Ungleichheit dazu beitragen können, die Welt von morgen anders zu gestalten.
Ausserdem im Heft: Die Journalismus-Ausstellung im Kulturmuseum, Carmen Jacquiers anregender Spielfilm Foudre, die Flaschenpost von Marguerite Meyer aus Tirana sowie ein übervoller Kulturkalender. Und ganz nebenbei: Guckt mal auf Seite 12.
Zurück zum Hauptthema: St.Gallen hat noch viel aufzuholen. Städte wie Mailand, Paris oder München machen vor, wie man konsequent neue Grünflächen schafft. Mit Bäumen und Pflanzen im Strassenraum, mit Pärken in den Quartieren, mit begrünten Fassaden und Dächern. Letztere können nicht nur Lebensraum für Pflanzen und Insekten sein, sondern auch für andere Tiere: Auf dem Dach des «Werk 3» in München leben neben Bienen- und Ameisenvölkern auch Schwarznasenschafe, Hühner und Hasen.
Wir haben keine Zeit. Also nutzen wir sie.
David Gadze
Der Inhalt:
Reaktionen/Positionen
Bildfang
Stimmrecht von Sangmo
Warum? von Jan Rustishauser
Nebenbei gay von Anna Rosenwasser
Perspektiven
Grünes Gallustal
Saiten hat die Verantwortlichen vom Projektteam «Grünes Gallustal» und von der Stadt zum Gespräch getroffen. Ausserdem zeigen wir auf, wie Strassendiät funktionieren könnte, was man gegen die Biodiversitätskrise unternehmen kann und warum es ein Generationenprojekt ist, die Asphaltwüste rund um den Broderbrunnen zu begrünen.
Regula Geisser und Gregor Geisser vom Projektteam des «Grünen Gallustals», Stadtplaner Florian Kessler und Adrian Stolz, Leiter Stadtgrün im Interview.
von Corinne Riedener und David Gadze
Wie kann man die Biodiversität in der Stadt wieder stärken?
von David Gadze
Strassendiät: Mit schmaleren Strassen, mehr Grün am Rand und tieferen Geschwindigkeiten liesse sich manche Bodenversiegelung rückgängig machen.
von René Hornung
Ein Jahr zuhause: Flaschenpost aus Tirana
von Marguerite Meyer
Maja Göpel
Klimakrise und soziale Ungleichheit bieten Chancen, die Welt von morgen neu und anders zu gestalten, sagt Politökonomin Maja Göpel. Im Interview fordert die Vordenkerin des sozial-ökologischen Wandels neue politische Strukturen und Zukunftserzählungen.
von Philipp Bürkler (Interview) und Andri Voehringer (Bild)
Kultur
Musik: Immer noch prickelnd, aber nicht überschäumend – Soda melden sich mit neuer Musik zurück.
von David Gadze
Journalismus erleben
Literatur: Giftland, der neue Mundart-Roman von Dominic Oppliger, ist eine tragikomische Demontage des Roadtrip-Mythos.
von Julia Kubik
Literatur: Bild ohne Mädchen erzählt die Geschichte eines sexuellen Missbrauchs ohne Voyeurismus und Showdown. Und das ist auch gut so.
von Corinne Riedener
Kino: Foudre von Carmen Jaquier spielt zwar in der Vergangenheit, stellt aber durchaus zeitgenössische Fragen an die sexuelle Erweckung.
von Corinne Riedener
Plattentipps: Analog im April
von Magdiel Magagnini, Lidija Dragojevic und PhilippBuob
Parcours: Lena, Improvisationsmaschinen, faire Einkaufskultur und Phyne
Gutes Bauen Ostschweiz: Erbe und Aufbruch.
von Stefanie Haunschild
Abgesang
Kellers Geschichten
Pfahlbauer jr.
Comic von Kubik