Im Angesicht des Bären

In ihrem Buch «An das Wilde glauben» verarbeitet Anthropologin Nastassja Martin den Bärenangriff auf Kamtschatka, der sie beinahe das Leben gekostet hätte. Was macht das Symbol- und Wappentier mit uns Menschen und was bedeutet das für unseren Umgang mit der Natur? von Katharina Brenner
Von  Gastbeitrag

Ein Bär ist selten ein Bär. Wir haben ihn aufgeladen mit Zeichen und Symbolen, mit Geschichten und Legenden wie jener vom Heiligen Gallus. Gallus sitzt am Feuer, da kommt ein Bär und möchte Reste seines Abendessens. Bevor er ihm etwas davon abgibt, trägt Gallus dem Raubtier auf, ihm Holz zu bringen. Der Bär gehorcht. Fortan, so Gallus zum Bären, soll er das Tal, die Menschen und das Vieh meiden und in den Bergen und Hügeln leben.

Die Zähmung des Bären als Beweis dafür, dass Gott mit Gallus ist, als Ausdruck von Kraft und Mut, als Betonung des harmonischen Zusammenspiels von Mensch und Natur – all das sind Lesarten der Legende. Von Bären ist in den umliegenden Hügeln längst keine Spur mehr, doch auf Bildern, Souvenirs und Fahnen ist das Raubtier omnipräsent. Von St.Gallen bis Kalifornien ist der Bär ein beliebtes Wappentier.

Gallus und der Bär (Bild: Stiftsarchiv St.Gallen)

Die französische Anthropologin Nastassja Martin fragt sich in ihrem Buch An das Wilde glauben, wem oder was die Figur «Bär» hier in der westlichen Welt wohl entsprechen kann: «Kraft. Mut. Mässigkeit. Die kosmischen und irdischen Zyklen. Das Lieblingstier von Artemis. Das Wilde. Die Höhle. Abstand. Reflexivität. Zuflucht. Liebe. Territorialität. Stärke. Mutterschaft. Autorität. Macht. Schutz. Und so wird die Liste immer länger. Schöne Bescherung.»

Martin ist auf der Suche nach ihrer eigenen Definition. Es geht für sie um sehr viel mehr als ein Symbol. Am 25. August 2015 wird die damals 29-Jährige in den Bergen der russischen Halbinsel Kamtschatka von einem Bären angefallen. Ein Teil ihres Kiefers ist weg, ihr rechtes Jochbein gebrochen.

Nastassja Martin: An das Wilde glauben. Matthes und Seitz, Berlin 2021, Fr. 29.–

An das Wilde glauben handelt vom Leben nach dem Ereignis, das Nastassja Martin so zusammenfast: «Ein Bär und eine Frau begegnen sich und die Grenzen zwischen den Welten implodieren.» Sie und der Bär müssen «weiterleben mit dem, was in unserem Körper hinterlassen worden ist».

Vom Glauben an die beseelte Natur

Das dünne Buch, aus dem Französischen übersetzt von Claudia Kalscheuer, erinnert an eine Art Tagebuch und gibt der Leserin Einblicke in Träume, Dialoge, Reflexionen. Es stecken viele kluge und weitreichende Gedanken über das Menschsein, über unser Verhältnis zu Tieren und zu unserer Umwelt darin. An das Wilde glauben handelt von Fragen nach Identität. Nastassja Martin versucht, sich «mit den Elementen von Alterität neu zu definieren, die sie im Gesicht trägt».

Antworten findet sie im Erzählen einer mehrstimmigen Geschichte sowie im Animismus, dem Glauben an eine beseelte Natur. Wen das abschreckt, sei beruhigt: Das Buch kippt nie ins Esoterische oder Kitschige. Dafür ist es zu komplex und vielschichtig. Es verklärt nicht.

Nach der Begegnung mit dem Bären findet sich die Autorin in einem «medizinischen Kalten Krieg» zwischen Russland und Frankreich wieder. Hinzu kommen Rivalitäten zwischen Pariser Spitälern und jenen in der französischen Provinz.

Nastassja Martin (Bild: Philippe Bretelle et Gallimard)

Als es ihr gesundheitlich wieder möglich ist, kehrt Martin zurück zu den Ewenen, traditionelle Rentierzüchter, mit denen die Anthropologin bereits zusammengelebt hat. Hier, im russischen Norden, sagt ihre Freundin Darja zu ihr: «Manchmal machen bestimmte Tiere den Menschen Geschenke. Du bist das Geschenk, das die Bären uns gemacht haben, indem sie dich am Leben gelassen haben.»

Der Satz klingt bei der Überlebenden nach. Er berge die selbstverständliche Annahme in sich, «in einer Welt zu leben, in der alle einander beobachten, zuhören, sich erinnern, geben und nehmen; es liegt darin auch die tagtägliche Aufmerksamkeit für andere Leben als das unsere; und schliesslich der Grund, warum ich Anthropologin geworden bin». Kurz vor dem Angriff habe sie genau das vergessen: dass sie sich in einer potenziell bewohnten, von anderen Lebewesen durchstreiften Welt befand.

Mindestens 18 «Besuche»

Auch in der Schweiz sind Bären seit einigen Jahren wieder mehr als Zeichen und Symbole. 2005 ist der erste Bär nach 100 Jahren in die Schweiz eingewandert. Es gibt ein Foto von ihm, entstanden am 28. Juli 2005 im Schweizerischen Nationalpark. «Leider haben wir keine wirklich guten Bilder von Bären in der Schweiz», sagt Sven Signer von Kora, dem Wildtiermanagement der Schweiz, das sich mit der Lebensweise und Entwicklung von Bär, Wolf und Luchs beschäftigt.

Das Foto ist unscharf, es ist rein technisch tatsächlich nicht gerade ein gutes Bild. Aber man kann es auch mit anderen Augen sehen. Dann wirkt es wie ein impressionistisches Gemälde aus dem 19. Jahrhundert oder wie eine Höhlenmalerei. Die Aufnahme hat etwas Zeitloses. Nastassja Martin schreibt über ihre Begegnung mit dem Bären: «Die Szene spielt sich heutzutage ab, aber sie könnte genauso gut vor tausend Jahren stattgefunden haben.» Menschen und Bären haben eine lange, komplizierte, eng verwobene Geschichte.

Der erste Bär, aufgenommen am 28. Juli 2005 im Nationalpark. (Bild: Maik Rehnus)

Wie viele Bären seit 2005 in der Schweiz unterwegs waren, lässt sich nicht genau sagen. «Wir hatten aber schon mindestens 18 ‹Bärenbesuche›, alles junge Männchen», sagt Sven Signer von Kora. Die meisten Bärennachweise stammen aus Graubünden, vor allem aus dem Engadin.

Dass Bären auch in anderen Landesteilen auftreten können, zeigt die Wanderung von M29 (wenig poetisch und wissenschaftlich steht M für Männchen, 29 für die fortlaufende Nummerierung der Tiere): M29 wanderte 2016 in Graubünden ein, lief quer durch die Schweiz und hielt sich längere Zeit in der Innerschweiz und im Berner Oberland auf, bevor er das Land übers Wallis verliess. Signer sagt, das Tier habe sich hier sehr unauffällig verhalten. «Solche Bären zeigen, dass es auch in einer dicht besiedelten Kulturlandschaft wie der Schweiz Platz für Bären gibt.»

Ein Bär vor mir: Was tun?

Bären, die «unerwünschtes Verhalten» gezeigt hätten, durch Nahrungssuche in Siedlungen und fehlende Scheu, habe es zu Beginn gegeben. Zwei von ihnen wurden als Risikobären eingestuft und geschossen. In den letzten Jahren seien aber ausschliesslich «freundliche Bären» in die Schweiz gekommen, alle aus Italien.

Im Trentino gab es eine kleine Restpopulation, die Anfang der 2000er-Jahre mit zehn Individuen aus Slowenien gestützt wurde. Die Schweiz sei zu klein für eine eigene Bärenpopulation und liege am Rand des potenziellen Verbreitungsgebiets, daher macht eine Wiederansiedlung gemäss Signer wenig Sinn. Nachbarländer hingegen siedeln seit Mitte der 1990er-Jahre wieder Bären an, gefördert durch Programme der Europäischen Union.

Anders als Menschen kennen Bären keine Grenzen. Signer sagt, wir sollten uns in der Schweiz auf weitere Bärenbesuche und irgendwann auch residente Individuen einstellen. Dazu brauche es präventive Massnahmen: Information der Bevölkerung, Entfernung und Sicherung möglicher Nahrungsquellen, bärensichere Abfallkübel, Schutz der Nutztiere.

Sein erster Ratschlag an Menschen, die einmal einem Bären begegnen, mag überraschen: «Freude haben.» Weitere wesentliche Ratschläge sind: «Sich bemerkbar machen und sich als Mensch erkennbar machen – reden.» Falls sich der Bär nicht zurückziehe, die Distanz langsam vergrössern. «Nicht auf den Bären zugehen, nicht davonrennen.»

Das Zusammenleben mit grossen Raubtieren ist ein hochemotionales Thema. Der Wolf kann ein Lied davon heulen. Was bedeutet die Rückkehr des Bären für den Menschen? Signer betont: «DEN Menschen gibt es nicht.» Unterschiedliche Personen seien unterschiedlich stark betroffen. Grundsätzlich gelte aber, dass wir Futterkonditionierung vermeiden wollen.

Was etwas sperrig klingt, bedeutet konkret: «Keine Essensreste liegen lassen und mögliche Nahrungsquellen bärensicher abschliessen.» Und: «Bären niemals füttern!» Bären, die sich die Nahrung beim Menschen suchen, könnten schnell unerwünschtes Verhalten entwickeln.

Gallus hat sich da anders verhalten. Aber das ist ja auch eine Legende.

Dieser Beitrag erschien im Septemberheft von Saiten.