, 5. Mai 2022
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Illegalisiert

Aus dem Maiheft: Wer ist Sans-Papier? Was bedeutet das? Welche Auswege und Angebote gibt es und wie steht es eigentlich um die St.Galler City Card? Infos, Zahlen und Fakten.

Bild: Saitengrafik

Was heisst Sans-Papier?

Der Begriff Sans-Papiers wurde in den 1970er-Jahren durch die sozialen Bewegungen in Frankreich geprägt. Im Englischen ist meist von «undocumented migrants» oder «irregular migrants» die Rede. Damit sind Menschen ohne Bleiberecht gemeint, oder im Behördensprech: «Ausländerinnen und Ausländer mit einem rechtswidrigen Aufenthalt». Es handelt sich dabei also nicht um Menschen, die keinen Pass oder andere Identitätspapiere besitzen, sondern um Menschen, die keinen legalen Aufenthaltsstatus haben, aber dennoch unter uns leben.

In der Schweiz unterscheidet man zwei Arten von Sans-Papiers, die «primären» und die «sekundären». Zur ersten Gruppe gehören Menschen, die gar nie eine ausländerrechtliche Bewilligung hatten, also Personen, die mit einem Tourist:innen-Visum einreisen und nach dessen Ablauf im Land bleiben, oder solche, die ganz ohne Visum eingereist sind.

Das können Einzelpersonen sein, oft sind es aber auch Familienmitglieder, deren Nachzug nicht bewilligt wurde. Zum Beispiel Kinder, deren Eltern zwar eine Bewilligung besitzen, die aber die Kriterien für den Familiennachzug nicht erfüllen, weil sie beispielsweise zu wenig verdienen oder eine zu kleine Wohnung haben. Oder ältere Familienmitglieder, etwa Grosseltern, die nicht in die Schweiz nachgeholt werden können. Wenn sie Pflege benötigen und ihre Kinder sie in die Schweiz holen, werden sie zu Sans-Papiers.

Zur Gruppe der sekundären Sans-Papiers gehören Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen ihre Bewilligung in der Schweiz verloren haben. Dazu gehören unter anderem ehemalige Saisonniers, deren Saisonnier-Statut nicht in eine B-Bewilligung umgewandelt wurde und deren Herkunftsland nicht in der EU ist; vor allem Personen aus dem Balkan sind davon betroffen. Auch Migrant:innen, die Sozialhilfe beziehen mussten, worauf ihnen die B- oder C-Bewilligung entzogen wurde zählen dazu. Oder Migrant:innen, die durch eine Heirat eine Aufenthaltsbewilligung erhalten haben, diese aber wieder verlieren, wenn die Ehe vor Dreijahresfrist geschieden wird.

Was gerne vergessen wird: Auch Menschen, deren Asylgesuch abgewiesen wurde, gehören zu dieser Gruppe. Wenn sie die Voraussetzungen für eine vorläufige Aufnahme nicht erfüllen und nicht freiwillig ausreisen oder aus anderen Gründen in der Schweiz verbleiben, zum Beispiel weil es mit bestimmten Ländern kein Rückschaffungsabkommen gibt, zählen sie ebenfalls zu den Sans-Papiers.

Sans-Papiers in der Schweiz

Schätzungen zufolge geht man in der Schweiz von 70’000 bis 300’000 sogenannt irregulären Migrant:innen aus. Laut einem Bericht des Staatssekretariats für Migration (SEM) zur Situation der Sans-Papiers in der Schweiz aus dem Jahr 2015 ist die Zahl 76’000 «am wahrscheinlichsten». Sie dürfte allerdings deutlich höher sein, denn wer nicht registriert ist, kann auch nicht gezählt werden. Insbesondere zur Ostschweiz existieren kaum Zahlen.

Die meisten Sans-Papiers in der Schweiz leben in bevölkerungsreichen Kantonen und urbanen Gebieten. Aus Gründen der Anonymität, verständlicherweise, aber auch weil es da die meisten Arbeitsmöglichkeiten gibt. Laut dem im Dezember 2020 erschienenen Bericht des Bundesrats zur «Gesamthaften Prüfung der Problematik der Sans-Papiers» weisen die Kantone Graubünden und St.Gallen mit 0,3 bzw. 1 den tiefsten Anteil Sans-Papiers pro 1000 Einwohner:innen auf. Am höchsten sind die Zahlen in Genf (27), Basel-Stadt (22), Zürich (20) und Waadt (16).

Viele Sans-Papiers stammen laut Schätzungen des SEM aus Zentral- oder Südamerika (42 Prozent), gefolgt von Staatsangehörigen aus Europa (Nicht-EU/EFTA-Staaten, 24 Prozent), Afrika (19 Prozent) und Asien (11 Prozent). Beim Bund geht man davon aus, dass der Grossteil der afrikanischen und asiatischen Sans-Papiers untergetauchte Asylsuchende sind, vor allem Männer. Sie haben tendenziell Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden. Ihnen gegenüber steht eine grosse Gruppe von Frauen, vor allem aus Lateinamerika, die eher über Beschäftigungsmöglichkeiten verfügen, vor allem in der Pflege, dem Betreuungssektor und in der Reinigungsindustrie. Wenn männliche Sans-Papiers Arbeit finden, dann vor allem in der Landwirtschaft, im Gastgewerbe oder auf dem Bau.

Man geht davon aus, dass 80 Prozent der erwerbsfähigen Sans-Papiers in der Schweiz einer Arbeit nachgehen. Viele sind vor der Armut in ihrem Herkunftsland geflüchtet und suchen hier Arbeit, um sich und den zurückgebliebenen Angehörigen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Arbeitsmigration für Nicht-EU-Angehörige ist jedoch nur noch für Hochqualifizierte möglich. Für eine Arbeit im Niedriglohnsektor bekommt man keine Arbeitsbewilligung in der Schweiz. Potenzielle Arbeitgeber:innen sind zudem verpflichtet, nachzuweisen, dass es keine aus dem Schengen-Raum stammende Person gibt, die für dieselbe Arbeit ebenfalls geeignet wäre.

Gleiche Rechte für alle?

Die rechtliche Situation von Menschen ohne Bleiberecht ist komplex, teilweise widersprüchlich und schwer zu durchschauen. Sans-Papiers verstossen gegen das Gesetz, indem sie sich ohne Aufenthaltsberechtigung in einem Land aufhalten. Sie können darum jederzeit weggewiesen werden. Entziehen sie sich der Ausweisung, können sie strafrechtlich verfolgt werden. Sie befinden sich also in einer äusserst prekären Lebenslage mit der ständigen Angst, von der Polizei entdeckt zu werden. Es ist ein Leben in der Anonymität. Jede kleinste Auffälligkeit könnte das Auffliegen ihres fehlenden Status und somit die Ausschaffung, also den Verlust ihrer Existenz zur Folge haben. Dadurch sind Sans-Papiers verstärkt Ausbeutung und Betrug durch Arbeitgeber:innen oder Vermieter:innen ausgesetzt.

Gleichzeitig haben Sans-Papiers aber Rechte, die ihnen ungeachtet ihres illegalisierten Aufenthalts zustehen, denn die im Völkerrecht, in internationalen Konventionen und der Schweizer Bundesverfassung verankerten Menschen- und Grundrechte gelten für alle, die sich in der Schweiz aufhalten. Demzufolge haben auch Sans-Papiers Rechte, auf die sie sich stützen können, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Deren Einforderung ist jedoch mit grossen Risiken verbunden, denn die Möglichkeiten, sich alleine und ohne Preisgabe der Identität zur Wehr zu setzen, sind äusserst begrenzt. Dieser Widerstreit zwischen dem Ausländerrecht und den Menschenrechten offenbart sich in verschiedenen Lebensbereichen, etwa in der Gesundheitsversorgung, bei der Bildung oder auf dem Standesamt.

Operation Papyrus

Nach wie vor gilt: Kein Mensch ist illegal – Menschen werden illegalisiert. Dieser Zustand ist beschämend und unhaltbar, nicht nur angesichts der globalen Zukunftsaussichten, die für ein Mehr an Migration sorgen werden. Ende der 1990er-Jahre zielten einige parlamentarische Vorstösse auf die kollektive Regularisierung von Sans-Papiers ab. Der Bundesrat hat sich stets dagegengestellt und sich für eine Einzelfallregelung ausgesprochen. Auf kantonaler und städtischer Ebene gab und gibt es bis heute dennoch Anstrengungen für eine kollektive Regularisierung.

Im Rahmen des Pilotprojekts «Operation Papyrus» hat Genf im Februar 2017 als erster Kanton in der Schweiz begonnen, Menschen ohne Aufenthaltsrecht einigermassen pragmatisch zu legalisieren, im Rahmen der Härtefallbewilligung und unter strengen Bedingungen: Nur wer 10 Jahre straffrei in Genf lebt und Französisch spricht (Familien mit
Kindern 5 Jahre), erfüllt die Kriterien. Bis Ende Oktober 2019 erhielten 1323 Personen eine Aufenthaltsbewilligung, ein Drittel davon waren Kinder und Jugendliche.

Während der Kanton Genf und das SEM nach dem ersten Jahr eine positive Bilanz zur Operation Papyrus zogen, wurden im Bundeshaus jedoch ganz andere Töne angeschlagen. Im Februar 2018 forderte die Nationalratskommission für Soziale Sicherheit und Gesundheit, dass Sans-Papiers in Zukunft weder AHV beziehen noch krankenversichert sein dürfen. Ausserdem wollte man, dass Arbeitgeber:innen härter bestraft werden und Lehrer:innen Schüler:innen ohne Aufenthaltsrecht melden müssen. Damit würde man Sans-Papiers noch tiefer in die Illegalität drängen. Das Postulat wurde zum Glück abgeschrieben.

City Card

Wenn es auch (noch) keine nationale Lösung gibt, so sind wenigstens auf städtischer Ebene welche in Sicht. Urbane Zentren können und sollen ihre Spielräume nutzen, zum Beispiel mit einer sogenannten City Card (Ausführliches zum Thema im Januarheft 2019 von Saiten).

Die City Card basiert auf dem Prinzip des Urban Citizenship und ist ein städtischer Ausweis, der für alle Bewohner:innen einer Stadt gilt, unabhängig ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltsstatus, und der gemäss dem Prinzip «Don’t ask, don’t tell» auch den Behörden und der Polizei gegenüber als Identitätsnachweis genutzt werden kann. Ausserdem erleichtert die City Card den Zugang zu verschiedenen öffentlichen und privaten Dienstleistungen.

In Italien oder den USA gibt es bereits einige Städte mit einer City Card. In der Deutschschweiz wird in der Stadt Bern schon seit längerem über eine solche Lösung diskutiert, in Zürich ist sie vielleicht bald Realität. Der Zürcher Stadtrat hat sich für eine City Card ausgesprochen, mehrere Rechtsgutachten haben ausserdem gezeigt: Die Züri City Card verstösst weder gegen Bundesrecht noch ist es der Stadt Zürich verboten, einen Stadtausweis einzuführen. Am 15. Mai entscheidet die Zürcher Stimmbevölkerung über einen Projektierungskredit von 3,2 Mio. Franken, um die Züri City Card auszuarbeiten.

Eine City Card würde den Wohnsitz und die Identität einer Person amtlich bestätigen. Gerade für Sans-Papiers hätte ein solches Dokument viele Vorteile: Unter anderem könnten sie sich wehren, wenn sie Opfer von Gewalt werden. Das heisst, sie könnten die Polizei benachrichtigen und gegebenenfalls auch Anzeige erstatten. Oder einen Krankenwagen verständigen, denn die Polizei ist verpflichtet, die Personalien von Zeug:innen aufzunehmen. Ausserdem würde eine City Card die Einschulung oder die Beantragung eines Kita-Platzes erleichtern. Und auch vermeintlich simple Vorgänge wie das Empfangen eines eingeschriebenen Briefes oder – wie in Coronazeiten überall üblich – das Ausweisen für den Kino-, Theater oder Restaurantbesuch.

Auch in St.Gallen ist die City Card ein Thema. Im September 2020 wurde ein entsprechendes Postulat im Stadtparlament für erheblich erklärt (35 Ja-Stimmen, 20 Nein, 4 Enthaltungen, mehr dazu hier. Damals hatte man sich noch gefragt, ob eine City Card «mit übergeordnetem Recht vereinbar» sei, und wollte auf das Rechtsgutachten zur Züri City Card warten. Mittlerweile ist das geklärt – kommt also bald die St.Galler City Card?

Ganz so schnell geht es dann doch nicht. Man sei einer City Card für St.Gallen gegenüber «grundsätzlich aufgeschlossen», sagt Stadträtin Sonja Lüthi, Vorsteherin Soziales und Sicherheit, auf Anfrage, «aber das braucht Zeit.» Ihre Direktion hat den Auftrag, eine City Card-Lösung zu prüfen und Bericht zu erstatten über allfällige Massnahmen oder notwendige Änderungen auf Gesetzesebene.

Wann sie den Bericht vorlegt, kann Lüthi nicht sagen. Sie hofft, noch in diesem Jahr. Der offizielle Beantwortungstermin wäre im September 2022, der Stadtrat werde aber eine Verlängerung um ein Jahr bis September 2023 beim Parlament beantragen.

Im Moment werde das Gutachten aus Zürich analysiert und ausgewertet, erklärt Lüthi. «Vieles muss noch konkret abgeklärt werden, schliesslich soll die St.Galler City Card einen echten Mehrwert für die Betroffen bringen. Wir wollen keine Pro­formalösung.» Auch sie blickt gespannt nach Zürich, wo am 15. Mai über eine City Card abgestimmt wird.

Sans-Papiers Anlaufstelle St.Gallen

In vielen Regionen der Schweiz gibt es seit Jahren diverse Beratungs- und Hilfsangebote für Sans-Papiers und somit auch ein differenziertes Wissen über deren Lebensbedingungen. Die Ostschweiz kam relativ spät dazu. Im Oktober 2018 wurde der Verein IG Sans-Papiers gegründet, daraus ist nach der Projektphase die Sans-Papiers Anlaufstelle St.Gallen entstanden. Seit knapp zwei Jahren berät und begleitet sie Menschen ohne Aufenthaltsrecht im Raum Ostschweiz.

Solidaritätslauf für die Sans-Papiers Anlaufstelle St.Gallen:

7. Mai, 13 bis 18 Uhr (Lauf: 14 Uhr), Stadtpark St.Gallen

Infos und Anmeldung:
sans-papiers-sg.ch oder solilauf@sans-papiers-sg.ch

Spenden an IBAN: CH96 0078 1623 4453 7200 0

In der Pilot- und Aufbauphase von Frühling 2020 bis Ende 2021 hat die Anlaufstelle über 200 Sans-Papiers bei spezifischen Fragestellungen unterstützt und rund 1500 Stunden ehrenamtliche Arbeit geleistet. Vor allem Frauen (74 Prozent) nahmen die Angebote der Anlaufstelle wahr. Zentral waren vor allem die Themen medizinische Grundversorgung, Krankenversicherung und Prämienverbilligung, Einschulung und Zugang zu Ausbildungsmöglichkeiten, Unterstützung bei Eheverfahren, Arbeitnehmer:innenschutz sowie die Regularisierung des Aufenthaltsstaus. Und natürlich alles rund um die Corona-Tests und Impfungen, die nur schwer zu bekommen sind ohne amtlichen Ausweis.

Daneben hat sich der Verein um finanzielle Mittel bemüht, mit Erfolg. Dank Beiträgen von Gönner:innen, der katholischen und der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St.Gallen und nicht zuletzt dank dem schweisstreibenden Einsatz zahlreicher Läufer:innen und Unterstützer:innen am Solidaritätslauf im September 2021 ist genug Geld zusammengekommen, um ein Jahr lang eine Stellenleitung zu finanzieren. Sozialarbeiterin Sylvie Ulrich hat das Büro der Anlaufstelle an der Rosenbergstrasse im Februar 2022 übernommen.

Die Anlaufstelle kann ihr kostenloses Beratungsangebot nun langfristiger planen, ausbauen und weiter professiona­lisieren. Das Geld bleibt aber weiterhin ein Thema, denn die Betriebsaufwände sind nur für dieses Jahr gesichert. Eine Regel­finanzierung wäre vonnöten. Bis diese aufgegleist ist, ist die Anlaufstelle weiter auf Gönner:innenbeiträge und Spenden von Alliierten angewiesen. Der diesjährige Solidaritätslauf findet am 7. Mai im St.Galler Stadtpark statt.

Dieser Beitrag erschien im Maiheft von Saiten. Corinne Riedener, 1984, ist Saitenredaktorin und im Vorstand der Sans-Papiers Anlaufstelle St.Gallen.

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