«Ich sah mich immer als CVP-Stadtrat – mit Betonung auf Stadtrat»
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Saiten: In der Juni-Ausgabe von Saiten schreibt Markus Rohner, dass die CVP ein Identitätsproblem habe. Wie schätzen Sie den Zustand Ihrer Partei anno 2017 ein?
Nino Cozzio: Im Moment hat sie sicher einen schweren Stand. Das ist schon seit Jahren so, hat sich aber nochmal akzentuiert, wie man unter anderem auch an den Wahlen in der Stadt St.Gallen sehen konnte: Wir haben drei Sitze verloren und letztlich auch ein Stadtratsmandat. Das war eine bittere Pille.
Woran liegt es?
Schwer zu sagen… Durststrecken gibt es bekanntlich in allen Parteien, leider dauert jene der CVP nun schon eine ganze Weile an. Vielleicht hat es damit zu tun, dass die CVP im Kanton St.Gallen lange mit Abstand die mächtigste Partei war. Das kann mit der Zeit auch träg machen. Früher hatte man auf der CVP-Liste jedenfalls immer recht gute Chancen, gewählt zu werden, da man im Kanton quasi eine absolute Mehrheit hatte – was natürlich auch nicht gerade ideal ist, zumindest nicht in meiner Vorstellung von Demokratie…
Ist es wirklich nur die Trägheit?
Nein, es liegt auch an gesellschaftlichen Veränderungen. Ursprünglich war die CVP eine klar katholische Partei. Heute ist das zwar nicht mehr so, aber diesen Stempel trägt sie nach wie vor. Früher hat man gegen «die Liberalen» gekämpft und dafür, dass die Kirche im Staat weiterhin etwas zu sagen hat. Dieser Kulturkampf hat damals sehr viele Leute hinter der CVP vereint. Heute fehlen der Partei solche Alleinstellungsmerkmale.
In diesen Zeiten, wo man so gern von der «Verteidigung des christlichen Abendlandes» spricht, wie es auch «Ihr» Nationalrat Gerhard Pfister tut, gäbe es doch für die CVP reichlich Anschlusspotenzial, oder nicht?
Das könnte man meinen, aber dafür müsste man auch voll auf diese Karte setzen. Und die CVP ist ja heutzutage gar nicht mehr so eng mit der Kirche verbunden wie noch vor 20 oder 30 Jahren. Abgesehen davon fände ich es ohnehin falsch, wenn man aus rein aktuellen Gründen wieder näher zur Kirche rücken würde oder, schlimmer noch, einen streng anti-islamischen Kurs fahren würde, in der Hoffnung, noch ein paar Christen für sich zu gewinnen. Wähleranteile sollte man sich grundsätzlich nicht durch Ausgrenzung anderer Gemeinschaften sichern. Wenn eine Partei sagt, dass sie einen religiösen Hintergrund zulässt, finde ich das zwar gut, trotzdem muss es für alle Platz haben, auch für solche, die mit der Kirche nicht mehr viel anfangen können. Ich selber bin praktizierender Katholik, bin aber auch nicht überall einverstanden mit der Kirche: Die Stellung der Frauen in der katholischen Kirche beispielsweise müsste man dringend überdenken. Doch wie gesagt: Die CVP hat sich gewandelt und beschäftigt sich längst auch mit anderen Themen, nicht mehr nur mit dem Verhältnis von Kirche und Staat.
Wo liegen denn die Themen bzw. Schwerpunkte, mit denen sich die CVP heute wieder profilieren könnte?
Nicht weit entfernt von dem, womit sich die CVP schon in den letzten Jahrzehnten beschäftigt hat: Einerseits die Familienpolitik – und damit meine ich das familiäre Zusammenleben im 21. Jahrhundert, also nicht mehr bloss Mann, Frau und Kind, sondern jegliche Familienformen, die es gibt. Da geht es um die Frage, wie man dieses Gebilde schützen kann; wie man Menschen schützen kann, die Verantwortung für andere tragen. Und zweitens – weil die CVP als Mitte-Partei aus einem christlich-sozialen und einem Wirtschaftsflügel besteht – das Gewerbe. Es freut mich zwar, wenn Markus Rohner mich im Saiten-Magazin als «einen der profiliertesten Sozialpolitiker» beschreibt, trotzdem bin ich der Meinung, dass das Eine nicht ohne das Andere geht: Man kann keine solide Sozialpolitik betreiben, wenn man die Wirtschaft links liegen lässt. Den Nöten der Menschen kommen wir nicht mit rein politischen Massnahmen bei, dafür braucht es unter anderem Arbeitsplätze und einen stabilen Haushalt. Zudem glaube ich, dass die meisten Verantwortlichen in der Wirtschaft relativ sozial denken.
Was aber auch zum guten Ton gehört: Wer sich als Unternehmer heutzutage nicht sozial und nachhaltig gibt, hat ziemlich schnell einen Shitstorm am Hals…
Sicher, aber letztendlich setze ich doch auf ein ernsthaftes Verantwortungsgefühl. Das würde auch gut zur CVP passen. Darum nochmals: Sich wirtschaftlich zu betätigen und Gewinn anzustreben, ist nicht per se falsch, denn jeder Franken, den wir für soziale Zwecke ausgeben, muss vorher verdient werden. Diese Prämisse muss Platz haben in der CVP, andernfalls könnte ich mich nicht identifizieren mit dieser Partei.
«Bei der CVP geht es immer um den Kompromiss. Und dieser ist in der Regel wahnsinnig unspektakulär.»
Trotzdem werden Sie, vor allem im Kanton, eher als (linker) Sozialpolitiker wahrgenommen und weniger als strammer «Gwerbler».
Das ist so. Gut möglich, dass meine Kantonsratsfraktion nach rechts gerutscht ist. Oder ich nach links – schwer zu sagen. Sicher ist, dass man als Sozialdirektor einer Stadt mit der Zeit einen anderen Zugang zu gewissen Fragen entwickelt, was sich letztlich auch auf die politischen Positionen auswirken kann.
Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
Das nicht, aber ich bin beispielsweise absolut überzeugt von unserem – vernünftig ausgebauten – Sozialstaat, von dem auch Leute in meiner Partei sagen, dass er zu weit gehe. Ich persönlich würde etwa das soziale Existenzminimum nicht weiter kürzen, aber das sehen lange nicht alle so in meiner Partei.
Gerade an der Sozialen Frage zeigt sich doch das Dilemma der CVP: Die einen ticken noch nach alter CSP-Schule, die anderen haben sich der Wirtschaft verschrieben.
Ja, vielleicht ist das das Problem: Die CVP ist im Moment weder Fisch noch Vogel… Früher waren wir «katholisch» und hatten somit einen klaren Kristallisationspunkt, heute wollen wir vieles vereinen, was dazu führt, dass unsere Kernthemen auch von den anderen Parteien abgedeckt werden; das soziale Element von der Linken, das wirtschaftliche von den Freisinnigen und das ökologische von den Grünen. Diese Parteien können viel mehr als Einheit auftreten. Aufgrund unserer internen Diskussionen – die wir leider auch nicht immer führen und danach dafür die Quittung kassieren – wird jedenfalls klar: Bei der CVP geht es immer um den Kompromiss. Und dieser ist in der Regel wahnsinnig unspektakulär. Weil wir, zum Beispiel auch Punkto Kinderzulagen, nicht ganz so weit gehen wollen wie die SP, aber auch nicht ganz untätig sein wollen wie die FDP. Zugegeben, sehr oft haben wir auch die Mehrheit bei den Abstimmungen, weil es eben ein Kompromiss ist, aber diesen im Vorfeld den Medien und der Öffentlichkeit zu verkaufen, ist wesentlich schwieriger, als wenn man wie die SVP einfach auf den Tisch klopfen und sagen würde: «Alle Ausländer raus!»
Sie geben sich als Konsenspolitiker, trotzdem ecken Sie an im Kantonsrat…
Das kann sein, aber rein von meinem Naturell her passe ich nunmal zur CVP. Ich bin jedenfalls noch nie geschnitten worden von meiner Fraktion, wenn ich anders gestimmt habe als sie. Auch darum fühle ich mich wohl in meiner Partei, denn wenn das nicht mehr drinliegt, müsste ich auch nicht mehr im Kantonsrat sitzen, sondern könnte unseren Fraktionschef abstimmen lassen.
Wechseln wir zur Stadt: Gibt es rückblickend Dinge, die Sie anders gemacht hätten in den vergangenen zehn Jahren als Stadtrat?
Aufs und Abs gibt es bekanntlich immer, grundsätzlich ist meine Bilanz aber sehr positiv. Ich konnte zwar nicht alle meine Anliegen durchsetzen, aber das gehört dazu in einem kollegial orientierten Gremium. Und ich kann guten Gewissens sagen, dass die Zusammenarbeit im Stadtrat aus meiner Sicht immer gut geklappt hat, egal in welcher Zusammensetzung.
Beim Thema Videoüberwachung gab es damals ja ordentlich Gegenwind…
Ja, damit muss man leben in der Politik. Ich empfand die Diskussion als sehr wertvoll. Nicht zuletzt, weil sie uns geholfen hat, die Vorlage zu optimieren, sprich die Stadt nicht vorauseilend mit möglicherweise unnötigen Videoüberwachungsanlagen zu überziehen – trotz deutlicher Zustimmung bei den Stimmberechtigten.
Auf der einen Seite gibt es die Kritik an der Überwachung und am Polizeireglement, auf der anderen steht das subjektive Sicherheitsempfinden und die «Angst vor dem Terror». Wie geht man als Polizeichef mit diesem Dilemma «sichere Stadt vs. offene Gesellschaft» um?
Prinzipiell beeinträchtigt jede Sicherheitsmassnahme, die man trifft, irgendwo auch die Freiheit. Im Fall der Videoüberwachung ist es jedenfalls so, und heute scheint es, als wären die Menschen wieder eher bereit, dem Sicherheitsgedanken etwas von ihrer Freiheit zu opfern. Wobei ich der Meinung bin, dass wir in St.Gallen ein gutes Mittelmass gefunden haben. Bis jetzt ist in unserer nahen Umgebung zum Glück nichts passiert, trotzdem müssen wir uns polizeilich darauf einstellen, dass das auch bei uns der Fall sein könnte. Einfach gesagt: Ja, dafür brauchen wir Informationen – und die entsprechenden Möglichkeiten, an diese heranzukommen. Ich glaube zwar, dass wir es diesbezüglich nicht übertrieben haben in der Stadt St.Gallen, trotzdem finde ich, dass die Polizeipräsenz noch weiter ausgebaut werden sollte – was ziemlich teuer ist: Eine Doppelpatrouille über 24 Stunden benötigt durchschnittlich etwa neun bis zehn Vollzeitangestellte. Wenn man also die Präsenz zu Spitzenzeiten markant herauffahren wollte, bräuchte man dafür etwa 100 oder 200 Leute. Und selbst dann wäre die Polizei nicht wirklich sichtbarer.
Sind denn Terroranschläge in St.Gallen überhaupt ein Thema auf politischer Ebene?
Vorstösse direkt gibt es nicht, aber in der städtischen GPK oder der neuen «Kommission Sicherheit und Soziales» wird schon über Terrorismus diskutiert, etwa nach den Anschlägen in Manchester oder London. Da will man zum Beispiel wissen, ob die Polizei an einem St.Galler Fest oder vergleichbaren Anlässen auf eine höhere Präsenz setzt beziehungsweise weitere Vorkehrungen trifft.
Kann man das subjektive Sicherheitsbedürfnis nicht auch anders befriedigen als mit erhöhter Polizeipräsenz?
Schwierig. Präsenz ist erwiesenermassen das Effektivste: Wenn die Bevölkerung sieht, dass jemand vor Ort ist und schnell reagieren kann im Ernstfall, dann fühlt sie sich am sichersten. Mit kommunikativen Massnahmen allein ist es nicht getan. Sicher, man kann es betonen, wenn beispielsweise die Verbrechensrate zurückgegangen ist, aber solche Statistiken sind immer auch heikel: Wenn man mehr Betäubungsmittelkontrollen durchführt, weist die Statistik am Ende auch mehr Drogendelikte auf. Das würde dann eher zur «subjektiven Verunsicherung» beitragen. Und der Umkehrschluss wäre, dass es ohne Kontrollen auch keine Kriminalität gibt, was natürlich kolossal falsch ist. Deshalb setzen wir auf Präsenz.
«Die Trennung von Menschen in ‹Christen› und ‹Muslime› ist ohnehin nicht vertretbar, nicht zuletzt, weil ich glaube, dass kein normaler Mensch Terror befürwortet, egal welchem Glauben er oder sie angehört.»
Trotzdem fürchten sich Herr und Frau Schweizer gern, hat man den Eindruck. Im Moment vor allem vor «dem Islam»: Wo immer ein islamistischer Anschlag verübt wird, erwartet man von den Muslimen, sich kollektiv davon zu distanzieren. Es dominiert eine «Wir gegen Die»-Mentalität. Müsste die Parole aus Ihrer Sicht als Sozial- und Sicherheitsdirektor nicht vielmehr lauten «Wir alle zusammen gegen den Terror»?
Das wäre das Ziel, klar! Daran arbeiten wir unter anderem mit den interreligiösen Dialogwochen oder dem alljährlichen Begegnungstag. Ausserdem gibt es regelmässige Gespräche zwischen verschiedenen Imamen und dem Direktor Soziales und Sicherheit, wo man gemeinsame Strategien erarbeitet und Vorurteile abzubauen versucht. Die Trennung von Menschen in «Christen» und «Muslime» ist ohnehin nicht vertretbar, nicht zuletzt, weil ich glaube, dass kein normaler Mensch Terror befürwortet, egal welchem Glauben er oder sie angehört.
Ist Racial Profiling ein Thema bei der Stadtpolizei?
Ja, dazu gibt es Schulungen. 2011 beispielsweise haben wir uns an einem Projekt mit nigerianischen Polizisten beteiligt, die zusammen mit St.Galler Polizisten im Aussendienst waren. Das wurde als sehr wertvoll empfunden und hat den Blick auf beiden Seiten geöffnet. Ganz vermeiden kann man Kontrollen aufgrund äusserlicher Merkmale leider nicht, denn die sogenannten «Chügelidealer» kommen nunmal grösstenteils aus Nigeria und radikale Islamisten tendenziell aus dem Nahen Osten oder aus Nordafrika. Das stellt die Polizei natürlich vor Fragen: Wie verhält man sich zum Beispiel, wenn man jemanden gefilzt hat, der offensichtlich unschuldig ist? Entschuldigt man sich, trotz Zeitdruck? Oder macht man einfach weiter?
Wäre es also nicht sinnvoll, bei der Polizei endlich auch Leute mit C-Bewilligung einzustellen, wie es unter anderem in den Kantonen Basel-Stadt oder Neuenburg der Fall ist? Früher oder später wird das Corps ohnehin bunt gemischt sein…
Das wäre sicher hilfreich, ja, aber momentan braucht man bei der St.Galler Polizei noch das Schweizer Bürgerrecht. Das Corps hat sich aber auch so verändert in den letzten Jahren; mittlerweile gibt es doch einige Polizisten mit Migrationshintergrund, aus Ex-Jugoslawien beispielsweise. Wir sind jedenfalls offen für jede Bewerbung. Die Frage ist eher, ob jemand überhaupt in der Justiz arbeiten will… Wer in Uniform in der Stadt herumläuft, kann ja nicht nur an das Gute im Menschen glauben – und trotzdem muss genau das die Grundhaltung sein, wenn man diesen Beruf länger aushalten will.
Und als Sozialdirektor der Stadt mit den höchsten Sozialausgaben im Kanton, sieht man da manchmal auch nur noch die Probleme?
Auch ich muss meinen Blick hin und wieder reinigen, klar. Wenn ich nur noch die Sozialfälle vor Augen habe, versuche ich mir stets zu vergegenwärtigen, was unsere Stadt sonst noch alles zu bieten hat: eine renommierte Universität, diverse Kulturinstitutionen, gute Einkaufsmöglichkeiten und so weiter. Am mühsamsten sind übrigens die Parkbussen; wenn mir Leute böse Briefe schreiben, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen.
Auch der Veranstalter des Weieren-Festivals fühlte sich von den Behörden ungerecht behandelt. Die Lärmschutzauflagen seien zu streng, sagt er, und man habe das Bewilligungsverfahren absichtlich verzögert. Ähnliches hört man auch von anderen Kulturschaffenden und Veranstaltern. Haben wir in St.Gallen ein «Kultur-Problem»?
Das hoffe ich nicht, denn grundsätzlich sind alle gleich zu behandeln. Abgesehen davon fühlen sich nicht nur Kulturschaffende benachteiligt, dasselbe höre ich auch vom Gewerbe und von der Gastronomie. Man muss einfach sehen: Die Stadt ist ein enger Raum mit vielen verschiedenen Anspruchsgruppen, da kann es schnell passieren, dass man sich gegenseitig auf die Füsse tritt. Umso wichtiger ist es, einen guten Ausgleich zu finden.
Und dabei hilft eine restriktive Bewilligungspraxis?
Wir sind nicht so streng und bünzlig, wie manche meinen. Aber ja, diesen Vorwurf mussten wir uns unter anderem auch im Zusammenhang mit dem St.Galler Fest gefallen lassen. Nur gab es dort schlagartig Verbesserungen, seit es um ein Uhr nachts fertig ist: Wir haben wesentlich weniger Schlägereien und kaum mehr nennenswerte Probleme mit Alkohol. Nochmal: In einer Stadt hat man alle möglichen – oft gegenläufigen – Interessen unter einem Dach. Die einen wollen schlafen, die anderen bis in die Morgenstunden feiern und die Dritten wollen eine möglichst grosse Gartenbeiz. Dem muss man gerecht werden. Darum prüfen wir auch regelmässig, ob unsere Bewilligungspraxis noch à jour ist. Es ist ja nicht ausgeschlossen, dass wir nicht vielleicht doch überreglementiert sind und da und dort etwas entschlacken könnten. Selbst ich sehe manchmal Dinge, von denen ich mich frage, ob man das jetzt unbedingt so regeln muss. Wenn ich aber nachfrage, leuchtet mir die Begründung in den meisten Fällen durchaus ein.
«Wir sind nicht so streng und bünzlig, wie manche meinen.»
Demnach müsste man gewisse Abmachungen, Vorschriften und Auflagen einfach transparenter vermitteln, im Sinne einer städtischen Öffentlichkeit?
Ja, an diesem Punkt könnte man sicher ansetzen. Es hilft, wenn man etwas vernünftig erklären kann. Und ich will auch gar nicht behaupten, dass von unserer Seite her alles immer optimal läuft. Trotzdem: Das Recht muss für alle gelten. Angenommen es gehen Lärmklagen ein, dann ist die Polizei verpflichtet zum Ausrücken – egal wie viele es sind. Das ist generell etwas vom Schwierigsten: Man steht uniformiert auf dem Platz, rundherum wollen alle ein schönes Fest und somit nichts weniger als einen Beamten, der ihnen sagt, dass es zu laut sei.
Schauen wir in die Zukunft: Welche Herausforderungen werden in den nächsten zehn Jahren auf die Stadt St.Gallen zukommen?
Es gibt Fragen im Migrationsbereich, etwa punkto Flüchtlinge und Integration. Ziel ist das Miteinander auf Augenhöhe, dafür müssen wir die gegenseitige Verträglichkeit steigern. Ich benutze bewusst nicht das Wort Toleranz, weil es gerne etwas «von oben herab» klingt. Ausserdem hoffe ich, dass St.Gallen weiterhin eine soziale Stadt bleibt – mit den gleichen Chancen für alle. Wobei ich lieber von Chancengerechtigkeit rede und nicht von Chancengleichheit, da es diese real nicht gibt. Und nicht zu vergessen: die Herausforderungen im demografischen Bereich. Deshalb kann ich es auch nicht verstehen, dass sich manche ständig über zu viele Ausländer beklagen. Sie halten die Stadt jung und tragen aktiv zum Funktionieren unserer Gesellschaft bei, so wie meine Eltern damals. Ohne die Einwanderinnen und Einwanderer wird die Schweiz früher oder später überaltern.
Haben Sie zum Schluss noch Tipps oder einen Ratschlag für Ihren Nachfolger oder Ihre Nachfolgerin?
Er oder sie sollte die Stadt und ihre Leute mögen – und aus dieser Haltung heraus versuchen, das Beste zu machen. Als Stadtrat muss man für alle da sein. Und Mitglied der Exekutive zu sein, heisst auch, dass man sich nicht nur auf die Parteipositionen zurückzieht, sondern auch hin und wieder in den Clinch geht mit den eigenen Leuten. Will heissen: Ich sah mich immer als CVP-Stadtrat – mit Betonung auf Stadtrat. Egal wie die Wahl im September ausgeht, ich hoffe, dass sich mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin auch über die Parteigrenzen hinaus einen Namen verschafft. Natürlich würde es mich freuen, wenn das jemand aus meiner Partei wäre.
Die Erstatzwahl findet am 24. September statt. Dieser Beitrag erschien im Sommerheft von Saiten.