«Ich habe Fehler gemacht»
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«Gaza is breaking free», postet ein Bekannter am Abend des 7. Oktober auf Instagram. Eine andere schwärmt vom «palästinensischen Freiheitskampf» und teilt Posts von antisemitischen oder mindestens fragwürdigen Organisationen. Beide verstehen sich als Linke, beide sind aus der Ostschweiz.
Das sind bei weitem keine Einzelfälle. Während wir also noch geschockt und sprachlos daheim auf der Couch sitzen, erschlagen vom Newsstream und in Sorge um die jüdischen Menschen hier und dort, haben sich andere schon ganz unmissverständlich positioniert. Ich will intervenieren, aber mir fehlten die Worte – und das noch eine ganze Weile.
Wir rechnen mit einer Solidemo für die israelischen Opfer und Geiseln oder mit einer Mahnwache in den nächsten Tagen. Aber es geschieht: nichts. Auf St.Gallens Strassen herrscht tagelang Schweigen, obwohl hier die Versammlungsfreiheit, anders als in anderen Schweizer Städten, nicht eingeschränkt ist. Erst zehn Tage nach dem barbarischen Massaker wird zu einer «Demo gegen die Gewalt im Nahen Osten» aufgerufen. Allerdings anders, als wir uns das vorgestellt haben. Im Mobitext zur Demo heisst es unter anderem: «Seit Tagen ist Gaza unter Beschuss des Siedlerkolonialstaates» und «dieser Krieg ist das Ergebnis von 75 Jahren kolonialisierender Politik des israelischen Staates».
Geschrieben hat diese Sätze der «Funke», die Schweizer Sektion der «Internationalen Marxistischen Tendenz». Eine nicht weiter relevante kommunistische Organisation. Doch der Aufruf wird in mehreren Gruppenchats geteilt, auch von der Aktivistin und Juso-Stadtparlamentarierin Miriam Rizvi. Sie gerät darum schon im Vorfeld in die Kritik. Auch die Demo selber und die Tage danach sind für die 22-jährige Studentin ein einziger Spiessrutenlauf. Heute sagt sie: «Es gab einige Missverständnisse, im Nachhinein würde ich vieles anders machen. Zudem bin ich unbeabsichtigt zur Mitorganisatorin geworden.»
Das Demodesaster
Die Demo am Abend des 27. Oktober ist nicht allzu gut besucht. Das «Tagblatt» zählt etwa 150 Personen. Die St.Galler Linke bleibt dem Umzug grösstenteils fern, dafür sind viele Menschen mit palästinensischen oder libanesischen Wurzeln da, alte und junge, nicht wenige sind zum ersten Mal in ihrem Leben an einer Demo. Das Organisationskomitee weist mehrfach darauf hin, dass der Umzug friedlich verlaufen solle. Weder Antisemitismus noch Islamophobie werde geduldet.
Der «Funke» hält sich nicht daran, verbreitet israelfeindliche Parolen und kapert die Demo. Als sich Rizvi zu Beginn ihrer Rede klar von der Hamas distanziert, bauen sich mehrere ältere Männer vor ihr auf und widersprechen vehement. Die Hamas sei keine Terrororganisation, rufen sie und schneiden ihr das Wort ab. Mit Tränen in den Augen verlässt Rizvi die Demo.
Es ist ein Desaster. In den Tagen darauf wird die Aktivistin von allen Seiten attackiert und auch persönlich beleidigt, in den sozialen Medien, per Mail und in den Kommentarspalten. Von linken und jüdischen Kreisen wird sie als Antisemitin abgestempelt, die andere Seite schimpft sie eine Imperialistin und Verräterin an der palästinensischen Sache. Der «Funke» hat bereits zwei Tage vor der Demo ein haarsträubendes Statement veröffentlicht, in dem die «himmelschreiende Heuchelei des westlichen Imperialismus und seiner Lakaien, die sich hinter den israelischen Staat stellen» kritisiert und der «Blitzangriff» der Hamas relativiert wird.
«Ich habe Fehler gemacht», räumt Rizvi heute ein. «Unter anderem habe ich den fragwürdigen Demo-Aufruf unreflektiert geteilt.» Die Kritik daran kam postwendend. Rizvi hat daraufhin auf Instagram versucht, die Wogen zu glätten, was allerdings wenig genützt hat. «Als Antifaschist*innen wollen wir gegen Antisemitismus und Rassismus eintreten und verurteilen daher beide Formen des Hasses», heisst es im Statement. «Unsere Solidarität gilt der Zivilbevölkerung, die von diesen beiden Aspekten der Diskriminierung und deren gewaltsamen Ausdrucksformen betroffen ist. Wir stehen für die tatsächliche Befreiung aller Menschen und weigern uns, einem islamistischen Verständnis der Befreiung oder einem Narrativ, das Kolonialismus begünstigt, zu verfallen.»
Der Antrieb zur Demo sei universalistisch und solidarisch mit der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten gewesen, sagt Rizvi und betont ihr «differenziertes Verständnis» der Situation in Nahost. «Mein Vater, ein muslimischer Pakistani, hat mich mit antisemitischen Stereotypen erzogen. Er hat früher Pro-Palästina-Demos organisiert. Als ich älter wurde, wurde mir sein Antisemitismus bewusst und ich begann mir Gedanken zu machen, mich umfassend zu informieren. Heute haben wir keinen Kontakt mehr.»
Über die Jahre habe sie sich viel Wissen angeeignet, sagt Rizvi, unter anderem im Kanti-Wahlfach zur Geschichte des Nahostkonflikts und auch im Rahmen ihres jetzigen Ethnologiestudiums. «Ich bin keine Antisemitin, aber ich habe Antisemitismus ermöglicht an der Demo und das bereue ich zutiefst.»
Als Mitorganisatorin in Erscheinung getreten ist Rizvi, weil die eigentliche Initiantin, eine junge Kollegin, sie um Rat gefragt hat im Umgang mit der Polizei. Rizvi, die Klimagerechtigkeitsaktivistin und Stadtparlamentarierin, ist der Stapo bestens bekannt und weiss, worauf man bei Demobewilligungen achten muss. Also verhandelt sie mit den Behörden und rutscht so «unwillentlich in die Organisation». Rizvi sagt, sie und ihre Kolleg:innen hätten vor dem Start der Demo, wie mit der Polizei abgesprochen, alle Schilder und Transparente kontrolliert und die antisemitischen eingesammelt – «Intifada bis zum Sieg» oder «from the river to the sea». Auch zu den Parolen habe es eine klare Weisung gegeben. Jene in Arabisch seien zudem mit der Polizei abgesprochen gewesen.
Trotzdem ist der Antisemitismus in St.Gallen virulent an diesem Freitagabend. Weil der israelfeindliche «Funke» den Lead der Demo übernimmt, was Rizvi und ihre Kolleg:innen mit ihrer Teilnahme eigentlich verhindern wollen. Weil die islamistische Hamas und deren Massaker an den Jüdinnen und Juden von manchen Anwesenden verharmlost werden. Und weil trotz Mahnungen antisemitische Parolen zu sehen und zu hören sind.
Die Stadtpolizei erklärt zwei Wochen später, dass sie die Äusserungen nicht so einstuft und folglich nicht strafrechtlich verfolgt. Was nicht weiter erstaunt, hatte sie doch schon bei den Anti-Corona-Demos nichts einzuwenden gegen die Judensterne an den Overalls der Impfgegner:innen und ihre den Holocaust verharmlosenden Slogans wie «Impfen macht frei».
Eine zerstrittene Linke nützt immer den Rechten
Die Rede, die Rizvi und ihre Kolleg:innen an der Demo nicht zu Ende bringen können, wurde von anarchistischen Aktivist:innen aus dem Nahen Osten gemeinsam verfasst, jüdischen und palästinensischen. Darin heisst es: «Wir verurteilen zutiefst die brutalen Verbrechen der Hamas gegen die israelische Zivilbevölkerung und distanzieren uns von der Hamas, die die Freiheit der Palästinenser:innen für ihre politischen, antisemitischen und religiösen Zwecke benutzt. Ebenso verurteilen wir die Verbrechen der hochgerüsteten militärischen Angriffe des Staates Israel auf die palästinensische Zivilbevölkerung. Der Angriff der Hamas kann nicht rechtfertigen, dass der palästinensischen Bevölkerung permanent und militärisch der Krieg erklärt wird.» Die jahrzehntelange Strategie Israels, Millionen Menschen «in einem belagerten Gebiet einzusperren, das von Zäunen, Überwachungstechnologie und Scharfschütz:innen umgeben ist, regelmässig bombardiert wird und in dem es keine Möglichkeit gibt, ein menschenwürdiges Leben zu führen», gehe nicht auf. Das hätten die Tage nach dem Angriff der Hamas gezeigt. «Wir trauern um die Toten, wir denken an das unmenschliche Leid der Familien beider Bevölkerungen – in Israel und in Palästina.»
Buchtipp: Stefan Lauer (Hg.), Nicholas Potter (Hg.): Judenhass Underground. Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig, 2023. CHF 34.90
Ähnliches war auch von anderen linken Gruppierungen und Institutionen in Europa zu lesen. Mit dieser Analyse muss man nicht überall einverstanden sein, aber es ist nicht zielführend, solche Stimmen auszuschliessen oder ihnen generell Antisemitismus vorzuwerfen, wie es Rizvi und anderen derzeit passiert. Es ist kein Geheimnis, dass der Nahostkonflikt in gewissen linken Räumen vornehm draussen gelassen wird. Das Streitpotenzial ist gross. Ebenso gross könnte aber auch das Lernpotenzial sein, wäre man bereit, eingefahrene Positionen zu hinterfragen. Ein paar Widersprüche auszuhalten. Begriffe klar zu definieren. Und konsequent gegen Antisemitismus vorzugehen. Irgendwie müssen doch die Reihen wieder zu schliessen sein.
Eine zerstrittene Linke nützt am Ende immer den Rechten. Diese lachen sich schon seit Wochen hämisch ins Fäustchen, weil sie gemerkt haben, dass Antisemitismus nicht nur in ihren Kreisen salonfähig, sondern ein Problem der ganzen Gesellschaft ist. Thanks Captain Obvious. Es sind dieselben Leute, die ihre neu entdeckte Israelsolidarität instrumentalisieren für ihren antimuslimischen Rassismus. Die von «importiertem Antisemitismus» reden oder von einer «demografischen Zeitbombe». Die jetzt am liebsten wieder «alle abschieben» würden. Die für ein Klima sorgen, in dem sich selbst sehr progressive Muslime «im Moment lieber nicht in deinem Artikel äussern» wollen, um sich nicht «zu sehr zu exponieren».
Solche Leute waren auch an der Demo in St.Gallen anwesend. Etwas abseits standen einige szenebekannte Rechte, zusammen mit einem aufstrebenden SVP-Politiker, und haben den Umzug gefilmt. Ein solches Filmteam war auch an der ersten St.Galler Pride letzten August zugegen. Der queerfeindliche Propagandastreifen hat nachher in den sozialen Medien seine Kreise gezogen und viele Menschen verletzt. Die Bilder der «Demo gegen Gewalt im Nahen Osten» sind medial wohl noch einfacher auszuschlachten. Vermutlich dienen sie dann dem «eidgenössischen Freiheitskampf».
Dieser Beitrag erschien im Dezemberheft von Saiten.