, 11. Oktober 2022
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«Ich bin ein Diener der Gesellschaft»

Giora Feidman hat den Klezmer in die Welt getragen. Auf der Welttournee zu seinem 75. Bühnenjubiläum macht der Klarinettist auch in St.Gallen Halt. Ein Gespräch über seine Musik, seinen Werdegang und die deutsch-jüdische Aussöhnung.

«Jede Stimme ist Musik, und Musik ist Ausdruck der Seele»: Giora Feidman spielt am Mittwoch in der St.Galler St.Laurenzenkirche. (Bild: pd)

Unverkennbar tiriliert, jauchzt, krächzt und lacht seine Klarinette. Giora Feidman zählt zu jenen grossen Namen, die den Klezmer in den 1970er- Jahren auch ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft und weit über Israel und New York hinaus bekannt gemacht haben.

Feidman, Jahrgang 1936, entstammt einer Familie von Klezmorim und ist in Buenos Aires aufgewachsen. Zunächst spielte er in renommierten klassischen Orchestern in Argentinien und Israel, bevor er in die USA zog und seine beispiellose Solokarriere vorantrieb.

Am Tag, an dem der Ukrainekrieg kurz vergessen scheint und die Medienwelt ausschliesslich über die Beerdigung der Queen berichtet, erreichen wir den «King of Klezmer» am Handy. Er befindet sich irgendwo in Deutschland auf Tournee, wo genau, können er und seine Begleiterin spontan nicht sagen. «In der Nähe von Köln», vermutet der Vielreisende in Englisch mit spanischem Akzent, in das er immer mal wieder einen deutschen Satz streut.

 

Saiten: Herr Feidman, wie gehen Sie eigentlich mit der Bezeichnung «König des Klezmer» um?

Giora Feidman: Ach, das hat vor 30 Jahren mal einer geschrieben, ich weiss nicht mehr wer. Und dann haben das alle übernommen. Sicher, ich war wohl massgeblich am Revival des Klezmer beteiligt. Aber ein König bin ich deswegen nicht. Viel mehr bin ich ein Diener der Gesellschaft. Das sind Sie auch. Wir alle sind das.

Was bedeutet Klezmer für Sie?

Das Wort Klezmer bedeutet, dass unser Körper ein Instrument für Lieder ist. Jede Stimme ist Musik, und Musik ist Ausdruck der Seele. Mein Vater war mein Lehrer. Er hat mir den Klezmer beigebracht, er hat mich an Hochzeiten und andere Feste mitgenommen, als ich etwa 13 Jahre alt war.

Giora Feidman: Friendship-Tour, 12. Oktober, 20 Uhr, Kirche St.Laurenzen, St.Gallen

giorafeidman-online.com

Haben Sie je ein anderes Instrument als die Klarinette gespielt?

Nein, von Anfang an war die Klarinette mein Instrument. Ich war noch ein kleiner Junge, als mein Vater ausser Haus war und ich das Instrument vom Tisch nahm. Dann hat er mir alles gezeigt, was mich bis heute prägt. Ich führe lediglich fort, was meine Vorfahren angefangen haben.

Lange waren Sie klassischer Musiker. Schon mit 18 wurden sie als Klarinettist vom Teatro Colón in Buenos Aires und wenig später vom nicht minder renommierten Israel Philharmonic Orchestra aufgenommen.

Ja, vor allem in Israel hatte ich die einzigartige Gelegenheit, mit den Grössten zu spielen, mit den besten Solisten, den besten Dirigenten, Bernstein, Münch, Mehta, Strawinski, you name it – eine einzigartige Erfahrung für mich.

Wie hat sich die politische Stimmung im jungen Staat Israel auf Ihr musikalisches Schaffen ausgewirkt?

Ich habe mich der Politik komplett entsagt und mich der Musik hingegeben. Das Israel Philharmonic Orchestra hat einen Klarinettisten gesucht, ich wurde eingeladen und habe die Stelle bekommen. Ein riesiges Glück, wie gesagt.

Sind Sie in den 1970er-Jahren nach New York gereist, um Ihre Solokarriere zu lancieren?

Das hat schon vorher angefangen. In den 1960er-Jahren haben mich Leute aus den USA in die grossen Konzerthallen eingeladen. Damals gab es nur wenige Kreise ausserhalb der jüdischen Gemeinschaft, die sich für Klezmer begeisterten. Aber es gelang uns, die Hallen zu füllen.

Aber erst 1977 zogen Sie nach New York.

Ja, meine Frau Ora, die anfangs Jahr leider verstorben ist, war nicht nur eine inspirierende Komponistin, sondern auch meine Managerin und engagierteste Förderin. Sie hat mich damals gedrängt, ich solle in die USA gehen. Sie hat alles organisiert, Kontakte hergestellt, Türen geöffnet. Drei Monate haben wir in einem schäbigen Hotel in New York gewohnt, bis es auf Tournee durchs ganze Land ging.

Haben Sie sich bewusst von der klassischen Musik ab- und dem Klezmer zugewandt?

Das war nicht nur ein einfacher Schritt für mich. Es war wie gesagt grossartig, mit all den grossen Namen spielen zu können.

Improvisation ist ein wichtiges Element Ihrer Musik. Sind Sie darum im Klezmer mehr zu Hause als in der Klassik?

Musik ist Ausdruck der Seele. Ich liebe klassische Musik noch immer, vor allem Kammermusik. Aber das Klezmer-Repertoire, das mein Vater mir mitgegeben hat, hat mich immer begleitet. Die Herausforderung, mich als Solomusiker in der Weltkulturhauptstadt New York durchzusetzen, hat mich gereizt. Es gab viele Leute, die mich dabei unterstützt haben.

Sie sind auch Friedensbotschafter. 2001 haben Sie als «grosser Botschafter der Versöhnung» das deutsche Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen. Ihr aktuelles Album zum 75-jährigen Bühnenjubiläum heisst Friendship. Ist die Botschaft heute wichtiger denn je?

Schauen Sie in die Ukraine oder egal wohin. Mir ist bewusst, dass sich Musiknoten leichter zusammenbringen lassen als Menschen. Ich glaube aber fest daran, dass Musik die Menschen in Frieden und Freundschaft verbinden kann. Wenn ich mein Instrument aufnehme, trage ich eine spirituelle Botschaft von Frieden, von «Schalom» in die Welt. Darum geht es mir.

Sie leben in Israel, verbringen aber auch viel Zeit in Deutschland, wo auch Ihr heutiges Management angesiedelt ist. Sie haben Deutschland einmal als «zweite Heimat» bezeichnet. Andere jüdische Künstler:innen haben sich geweigert, je wieder einen Fuss nach Deutschland zu setzen.

Danke, dass Sie das Thema ansprechen. Was unter dem Nationalsozialismus passiert ist, ist das grösste Verbrechen der Menschheit. Klar, Rassismus und Nazismus gibt es immer noch. Aber heute kann ich sagen, der Heilungsprozess ist abgeschlossen. Deutschland und das Judentum sind ausgesöhnt. Das ist einfach grossartig. Und hat auch mit Bildung zu tun. Ich bewundere den Mut der Deutschen, wie sie sich mit der Geschichte auseinandersetzen. Ich fühle mich hier sehr zu Hause.

In Deutschland und seit diesem Sommer auch in der Schweiz wird teils sehr emotional über kulturelle Aneignung diskutiert. Können Sie das nachvollziehen?

Ich bin Musiker, ich spiele für die Menschen. Ich spiele in Kirchen, in Synagogen, in Konzertsälen, egal für wen. Ich wiederhole: Musik ist eine Botschaft des Friedens und der Freundschaft.

Sie sind jetzt 86 und touren immer noch um die Welt. Ist das nicht anstrengend?

Natürlich, man bezahlt einen Preis. Ich weiss ja oft nicht einmal recht, wo man mich gerade hinbringt auf meiner Tournee. Das ist jeweils ein bisschen peinlich, wenn mich meine Kinder am Telefon danach fragen und ich keine Auskunft geben kann. Mein Daheim ist momentan das Hotel und nicht das kleine Dorf bei Tel Aviv.

Haben Sie nie ans Aufhören gedacht?

Nein, bitte, nein. Ich spiele, solange ich kann. Ich bin ein Diener der Gesellschaft. Es geht um die Verbindung von Künstler und Publikum.

Beginnen Sie Ihre Konzerte immer noch, indem Sie spielend von hinten durch das Publikum gehen und so die Bühne besteigen?

(Lacht.) Das würde ich gerne, aber mein Arzt hat es mir verboten. Die Bandscheibe, Sie verstehen. Ich gehe momentan am Stock, aber ansonsten geht es mir gut. Ich bin froh, sind die Coronazeiten vorbei. Die Sicherheits-Checks an den Flughäfen und überall konnten einen schon in den Wahnsinn treiben.

Giora Feidman, 1936, ist in Buenos Aires aufgewachsen und lebt heute in einem kleinen Dorf ein paar Kilometer ausserhalb von Tel Aviv. Seine Eltern waren anfangs des 20. Jahrhunderts vor den zunehmenden anti-jüdischen Pogromen in Osteuropa von Chisinau in die argentinische Hauptstadt geflüchtet. Dort begann Feidmans klassische Ausbildung an der Musikakademie. Zu grösster internationaler Bekanntheit gelangte der Klarinettist 1984 mit seiner Hauptrolle in Peter Zadeks Inszenierung des Theaterstücks Ghetto. Ausserdem spielte er unter anderem mit Violinist Itzhak Perlman bei John Williams oscargekröntem Soundtrack von Steven Spielbergs Schindlers List mit.

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