, 1. Oktober 2013
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Hunderttausende arbeiten für Schandlöhne

Der Ständerat hat der Mindestlohninitiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes eine Absage erteilt und empfiehlt das Volksbegehren ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung. Bei der Festlegung einer Lohnuntergrenze würden Branchen mit Tieflöhnen existenziell bedroht und die Arbeitslosigkeit nähme zu, behaupten die Bürgerlichen. Thomas Wepf, Regionalleiter der Unia Ostschweiz-Graubünden und Vizepräsident des Gewerkschaftsbundes des Kantons St. Gallen nimmt dazu Stellung.

Saiten: Staatliche Mindestlöhne sind nichts Neues. In 22 europäischen Ländern sind Minimalsaläre vorgeschrieben. Hat das klare Nein des Ständerates zur Mindestlohninitiative überrascht?

Thomas Wepf: Es ist für mich unbegreiflich, wie blind sich die bür­gerliche Mehrheit des Ständerates für die soziale Realität in der Schweiz zeigt. Das ist ein Affront gegenüber jenen rund 400’000 Arbeitnehmenden, die weniger als 4000 Franken verdienen – davon rund ein Drittel mit abgeschlossener Berufslehre! Der Ständerat verweigert ihnen den Anspruch, für ihre oft sehr harte Arbeit einen anständigen Lohn zu erhalten, der zum Leben reicht. Überrascht bin ich, weil der Ständerat die konkrete Chance verpasst hat, dem Missbrauch der Personenfreizügigkeit für Lohn­drückerei energischer entgegen zutreten und eine verbindliche Untergrenze festzule­gen.

Warum braucht es in der Schweiz einen Mindestlohn?

Die Schweiz ist eines der letzten Länder ohne gesetz­lichen Mindestlohn. Hunderttausende von Lohnab­hängigen arbeiten so zu Tiefstlöhnen unter 4000 Franken für ein Vollzeitpensum. Eine Familie oder eine Alleinerziehende kann von einem solchen Lohn nicht leben und solche Löhne sind der reichen Schwe­iz unwürdig. Besonders mies zahlen Detailhandelsbe­betriebe, industrielle Zulieferer, die Landwirtschaft oder Firmen im Gartenbau. Die Sozialpartnerschaft ist in der Schweiz leider unterentwickelt. Rund die Hälfte der Arbeiter und Angestellten ist durch keinen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) mit Mindestlöhnen ge­schützt. Grösstenteils, weil diese Arbeitgeber keinen GAV wollen, um durch Tieflöhne ihre Gewinne zu maximieren. Deshalb braucht es einen Mindestlohn im Gesetz, damit die Schandlöhne durch Löhne er­setzt werden, die einigermassen zum Leben reichen. Mit der Initiative wäre es einfach und gut möglich zu sichern, dass alle Arbeitenden tatsächlich Schweizer Löhne erhalten und keine Dumpinglöhne.

Der geforderte Mindestlohn (22 Franken pro Stunde, rund 4000 Franken pro Monat) liegt beispielsweise über dem Erwerbseinkommen von 70 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer. Er ist zwischen 40 und 100 Prozent höher als die Mindestlöhne, die in OECD-Ländern bezahlt werden. – Ist das vertretbar und warum?

Die Schweiz ist – das wissen wir alle – kein billiges Land. Wir haben hohe Lebensmittelpreise, die Mieten und Heizkosten sind hoch und die Krankenkassen­prämien sind für viele kaum mehr zu bezahlen. Es braucht deshalb auch (Mindest-)Löhne, mit denen man das Leben in unserem Land finanzieren kann. Der von den Gewerkschaften geforderte Mindestlohn wurde berechnet nach dem Kriterium, dass das Exis­tenzminimum nach den SKOS-Richtlinien eingehalten wird. Zudem gibt es eine international übliche Be­rechnungsmethode der OECD für den Mindestlohn, der dort liegt, wo fünf von sechs Löhnen höher sind. Dieser Wert beträgt für die Schweiz 3900 Franken. Der geforderte Schweizer Mindestlohn ist also keines­wegs ein zu hoher Luxuslohn, sondern liegt ganz knapp über dem Existenzminimum.

Weshalb ist eine Differenzierung des Mindestlohnes nach einzelnen Branchen für den Gewerkschaftsbund nicht relevant?

Das Ziel der Initiative ist ein nationaler Mindestlohn als unterster Standard. Da braucht es keine Differen­zierung mehr. Es ist auch so, dass sehr viele Preise national gleich sind. Kantone wie Branchen können den Mindestlohn aber aufstocken, nur Abschläge sind nicht zulässig. Als wichtigstes Instrument zum Schutz der Löhne nennt die Initiative eh die Gesamtarbeits­verträge. Für uns in den Gewerkschaften ist das der Königsweg für anständige Löhne. Und in den GAVs gab es schon immer unterschiedliche Mindestlöhne in den Branchen – je nach Stärke der Gewerkschaften. Das bleibt auch so – neu einfach mit dem verankerten Mindestlohn als Untergrenze.

Die Gegner der Mindestlohninitiative behaupten, sie würde ganze Branchen ruinieren und die Arbeitslosigkeit massiv erhöhen. Auch in Deutschland wird ein Mindestlohn (8.50 Euro pro Stunde) diskutiert. Mehrere wissenschaftliche Arbeiten, welche die Auswirkungen eines staatlichen Mindestlohns untersucht haben, stellen keine negativen Beschäftigungseffekte fest. – Kann diese Erkenntnis auf die Schweiz übertragen werden?

Unter den Ökonomen gibt es Befürworter und Gegner des Mindestlohns. Im Hinblick auf die Abstimmung wird nun mit grosser Arbeitslosigkeit und sonst allem Schlimmen Angst gemacht. Ein freisinniger St.Galler Politiker verstieg sich kürzlich sogar zur Aussage, Mindestlöhne seien gegen die Menschenrechte… Vie­le neuere Studien zeigen, dass Mindestlöhne möglich sind, ohne dass die Arbeitslosigkeit steigt oder dass im Gegenteil sogar mehr Arbeitsplätze geschaffen werden. Mindestlöhne steigern auf jeden Fall die Produktivität und die Motivation der Mitarbeitenden. Ob Mindestlöhne in der Schweiz wünschbar sind oder nicht, ist aber nicht in erster Linie eine Frage der Ökonomie, sondern der Gerechtigkeit. Arbeit muss sich lohnen, das ist der entscheidende Punkt.

Wepf

Thomas Wepf; fotografiert von Sabine Wunderlin

 

 

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