Hundert Jahre Unfreiheit

Effi Briest ist ein Zentraltext der Geschlechtergeschichte. Fontanes Roman erzählt von der lebensfrohen Effi, die 17-jährig mit dem doppelt so alten, steifen Baron Geert von Innstetten verheiratet wird, in einem Kaff in Hinterpommern versauert, sich einen Liebhaber zulegt …
Jahre später entdeckt ihr Mann Liebesbriefe von damals, fordert den Gegenspieler zum Duell, nicht aus Überzeugung, sondern aus preussischer «Rücksicht auf das Ganze», wie Innstetten sein Handeln für sich zurechtbiegt. Und erschiesst ihn.
Am Ende ist auch Effi tot, gestorben an gebrochenem Herzen und der Verlogenheit ihrer Zeit, und alle anderen sind unglücklich. Im wilhelminischen Deutschland des späten 19. Jahrhunderts gilt «die Gesellschaft» alles und die Selbstbestimmung der Frau nichts.
Und Ende des 20. Jahrhunderts? Die französische Nobelpreisträgerin Annie Ernaux kehrt in ihrem kurzen, 2022 auf Deutsch erschienenen Text Der junge Mann die Vorzeichen um: Ältere Frau angelt sich jungen Mann. Doch auch sie empfindet sich im Klammergriff der Moralvorstellungen und Vorurteile. Und kämpft sich frei, um den Preis einer Beziehung, die von Anfang an mehr soziales Experiment als Liebe ist.
Geschickt ineinander montiert
Am Theater am Kirchplatz (TaK) in Schaan bringt Intendant Thomas Spieckermann Effi Briest und Der junge Mann gemeinsam auf die Bühne – einen Klassiker des Realismus und einen Kulttext des Feminismus. Er montiert die beiden Geschichten eng ineinander, die Schnitte sind subtil, manchmal antworten sich Motive überraschend.
Das Ergebnis ist eine Bühnenfassung, die vieles weglässt und dennoch Atmosphäre schafft, geschickt auf die zentralen Szenen zuspitzt und in Fontane’scher Manier die Erzählperspektiven wechselt.
Vier Spieler:innen verlebendigen auf der kleinen Bühne in Schaan das Panorama des Landadels in Ostpreussen: Effi (Christiani Wetter), Instetten (Georg Melich), der smarte Major Crampas, dem sich Effi an den Hals wirft (André Rohde), Effis katechismustreue Mutter (Nicole Spiekermann), der alte Menschenfreund Briest (auch Rohde) und weiteres Personal samt Erzählstimmen, vom Ensemble mitverkörpert.
Fontanes sprichwörtlich gewordenes «weites Feld» ist auf eine kahle Schrägbühne reduziert, dahinter ab und zu Videos (Ausstattung Alexander Grüner). Regisseur und TaK-Oberspielleiter Oliver Vorwerk lässt schwungvoll, manchmal aber zu karikierend spielen.
Wetters Effi ist voll Wildheit, aufbrausender als im gemächlichen Erzählduktus des Originals, lautstark im Streit mit ihrem Baron, wo bei Fontane erst eine leise «Verstimmung» sich andeutet. Das passt vielleicht weniger ins 19., aber gut ins 21. Jahrhundert. Man fühlt mit ihr mit; anders als mit Annie Ernaux’ autobiografischer Ich-Erzählerin in Der junge Mann.
Monolog der Beziehungslosigkeit
Nicole Spiekermann spricht dieses Ich im gnadenlosen Ton der Selbstanalysen, wie sie für Ernaux’ Werk kennzeichnend sind. Das Ergebnis ist ernüchternd: eine im Grunde armselige Nicht-Beziehung zwischen einer Frau, die in ihrem jungen Liebhaber bloss ihre eigene Jugend noch einmal vergegenwärtigen will, und einem Mann, dem die Autorin weder Stimme noch Name noch Körper zugesteht.
Ernaux’ als Tabubruch und Meisterwerk hochgelobter Text wirkt auf der Bühne, obwohl stark gespielt, in seiner Fixierung auf Image und gesellschaftliches Ansehen konservativer, blutleerer und unemanzipierter als der verzweifelte, aber lebendige Befreiungsversuch der jungen Effi ein Jahrhundert früher.
Weitere Vorstellungen:
31. Januar, 21. Februar, 7. März
Der junge Mann trägt denn auch nur bis zur Pause, dann ist der Monolog erschöpft und die Ich-Erzählerin nach eigener Einschätzung «allein und frei». Im zweiten Teil kommt Ernaux mit zwei anderen (vom Theater nicht deklarierten) Texten zu Wort: einer kritischen Altersbetrachtung aus dem Finale ihres Erfolgsromans Die Jahre und Passagen aus Das Ereignis, dem Buch über ihre traumatische Abtreibung als Studentin in Paris.
Darin der Schlüsselsatz ihres Schreibens: «Die Dinge sind mir passiert, damit ich davon berichte.» Wetter und Spiekermann stehen bei diesem Bekenntnis Schulter an Schulter auf der Bühne – selbstermächtigt, würde man anno 2024 hoffen wollen, aber davon sind Effi und Ernaux, die Frauen dieses Doppelabends beide weit entfernt.