Hundert Franken für eine Lüge

Es ist okay, wenn Cops hin und wieder herum schwurbeln. Aber wenn sie sich dabei noch frech ins Fäustchen lachen – während sie gerade einen 18-Jährigen abschieben –, ist es definitv Zeit für ein paar wütende Zeilen.
Von  Corinne Riedener

Wir waren etwa dreissig Leute letzten Samstag in Bazenheid, die polizeilichen Zaungäste nicht eingerechnet. Dreissig Leute, die ein Zeichen gegen die Schweizer Ausschaffungspraxis und systematische Illegalisierung von Flüchtlingen setzen wollten. Hintergrund war der Fall von J., einem 18-jährigen Flüchtling aus Afghanistan, der seit über 50 Tagen im Bazenheider Ausschaffungsknast sass und heute zum zweiten Mal nach Italien zurückgeschafft wurde.

Dieses Mal hatten wir eine Bewilligung – anders als in der Woche zuvor, als wir beim «Grillen gegen Ausschaffung» vom St.Galler Roten- auf den Gallusplatz verwiesen wurden –, und am Freitag erschien sogar ein Artikel in der «Wiler Zeitung» zur geplanten Demo in Bazenheid. Das «Amt gegen Ausschaffungen», eine «unbekannte politische Gruppierung», kritisiere die Haftbedingungen in den Ausschaffungsgefängnissen massiv, stand darin. Der Journalist tat auch brav seinen Job und fragte unter anderem bei Hans-Rudolf Arta nach, dem Generalsekretär des St.Galler Justiz- und Polizeidepartements.

Arta fand unsere Vorwürfe «unberechtigt und deplatziert». J. sei «illegal in der Schweiz» und werde deshalb rechtskräftig ausgewiesen. Man erfülle nur die vom Gesetzgeber vorgeschrieben Pflichten. Was ihm offenbar gleichgültig ist: «Illegal» ist de facto jede Person, die über ein Schengen-Land einreist und in diesem zuvor kein Asylgesuch gestellt hat – in J.’s Fall war es Italien. Dort wurde ihm das Gesuch verweigert, wie der 18-Jährige sagt, weshalb er nach der ersten Ausschaffung wieder in die Schweiz zurückgekommen ist.

Abgesehen von J. und all den Vorteilen, die sich ein Binnenland wie die Schweiz mit Schengen-Dublin und derartigen Abkommen verschafft: Wollen wir Menschen wirklich ohne jegliche Verfahren, Untersuchung oder anderweitige Abklärungen ins Gefängnis stecken, um sie anschliessend still und leise aus dem Land zu schaffen? Mit Fairness, Menschenwürde oder Anstand hat das doch schon lange nichts mehr zu tun.

Recht und Gerechtigkeit sind bekanntlich nicht dasselbe, doch lassen wir das. Jedenfalls sind wir am Samstag unter den Augen des Gesetzes vom Bazenheider Bahnhof Richtung Ausschaffungsknast marschiert und haben unterwegs fleissig Flyer verteilt. Dort angekommen, wurden wir, wie erwartet, von weiteren Beamten empfangen. Vorsichtshalber schickten wir also nur eine Dreierdelegation – mich eingeschlossen –, um sie zu fragen, ob wir allenfalls mit J. sprechen dürfen.

Leider sei das nicht möglich, erklärten uns die äusserst freundlichen und gesprächsbereiten Zivilbeamten. «Besuche müssen jeweils angemeldet werden». Sonst könne ja jeder Dunkelhäutige aus Genf kommen und irgendeinen Kollegen besuchen. Man habe aber durchaus Verständnis für unsere Forderungen, sie selber würden ja auch die «rechtlichen Spielräume so gut wie möglich ausnutzen», versicherten sie. «Statt nur zwei haben die Ausschaffungshäftlinge bei uns vier Stunden Freigang.»

Was die grinsenden Chefs des Ausschaffungsknasts uns verschwiegen haben: J. war am Samstag gar nicht mehr in Bazenheid. Er wurde am Vortag nach St.Gallen überführt, wie sich Anfang Woche herausstellte – dann nämlich, als sich J. beim «Amt gegen Ausschaffungen» für die Briefe bedanken wollte, die wir ihm anstelle der persönlichen Grüsse übermittelt haben. «Er war wohl wegen der bevorstehenden Ausschaffung in St.Gallen», vermutete gestern eine Anwältin, die mit seinem Fall vertraut ist.

Heute morgen ist J. via Frankfurt nach Bologna geflogen worden. Was ihn dort erwartet, ist ungewiss. Er hofft, seine verschollenen Verwandten zu finden, stellt sich aber auf ein Leben ohne festes Dach über dem Kopf ein. Die Publizistin Carolin Emcke kennt solche Schicksale und sagte am Montag in der «Kulturzeit» von «3Sat»: «Mitleid haben wir mit Flüchtlingen nur, so lange sie in der Fremde sind.» Es sei schnell aufgebraucht, wenn sie in unsere Nähe kämen. Auch wenn die Sendung von Asylheimen und nicht direkt von Ausschaffungsknästen handelte, im Kern kritisiert die Politik- und Geschichtswissenschaftlerin dasselbe wie wir: die strukturelle Vernachlässigung von Flüchtlingen.

Ich persönlich finde, dass dieses Strukturelle nur ein Symptom ist, ein weiteres Indiz für deren systematische Unterdrückung. Hilfesuchende wie Häftlinge zu behandeln, ist Teil des perfiden Systems, mit dem wir (in der Schweiz Geborenen) unseren luxuriösen Lebensstandard sichern (Lügen gehört da übrigens auch dazu). Aber die Welt wird halt gopfertami nomol nicht gerechter, so lange wir (Vermögenden) nichts abgeben – egal wie lange wir (Wirtschaftsgläubigen) uns noch das Gegenteil einreden. Oder würden wir auch auf den «freien Wettbewerb» schwören, wenn wir dieselben Voraussetzungen hätten wie die von uns Ausgebeuteten? Eher nicht.

Um das zu erkennen, muss man nicht «links» oder wie Emcke monatelang mit Flüchtlingen unterwegs gewesen sein und aus Krisengebieten berichten. Es reicht, sich ein wenig mit den Gesetzen auszukennen wie dieser Leserbriefschreiber zum Beispiel: «J. ist nicht illegal eingereist», widerspricht er Hans-Rudolf Arta letzten Samstag in der «Wiler Zeitung». Er sei ja «faktisch dazu gezwungen worden», da ihm Italien das Asylgesuch verweigert habe. Einzurahmen ist aber vor allem seine Bemerkung zur schweizerischen Ausschaffungspraxis: «Es muss uns nachdenklich stimmen, dass solche Massnahmen zur rechtstaatlichen Normalität verkommen».

 

J. wird heute um 14 Uhr in Italien ankommen und in Bologna von einer befreundeten Organisation empfangen. Am Samstag sind rund 450 Franken für J. zusammengekommen. 350 konnten wir ihm übergeben, 100 Franken sind für die Bewilligung draufgegangen. Weitere Infos erteilt das Amt gegen Ausschaffungen