Humanitätsfolklore
Nothing about us without us: Diese Regel, obwohl inzwischen rundherum anerkannt, schien an diesem Abend ausser Kraft. Und dies, obwohl die jungen Geflüchteten hier leben: beredte (sogar in unserem Voralpendialekt), interessierte und informierte Jugendliche. Ihr Fehlen war eine Form von Diskriminierung, auch wenn die Veranstaltung gut gemeint war.
Im Gesprächsteam fiel einzig Patrick Müller, Geschäftsleiter des Trägervereins Integrationsprojekte St.Gallen (TISG), als themenkompetent auf. In die Zuständigkeit des TISG fällt auch das Internat Marienburg in Thal, wo Asylsuchende unter 18 Jahren seit Oktober 2016 im Auftrag der St.Galler Gemeinden betreut werden.
Katrin Muckenfuss, Dozentin für Soziale Arbeit an der Fachhochschule St.Gallen, Olivia Eugster, Juristin bei der Rechtsberatungsstelle des HEKS, und Etrit Hasler, St.Galler SP-Gemeinde- und Kantonsrat, beschäftigen sich nicht hauptberuflich mit den UMA und kennen die Marienburg nur teilweise, nahmen aber TISG-Vertreter Müller rasch in den kritischen Schwitzkasten.
«Verwaltet und nicht jugendgerecht behandelt»
Den Betreibern der Marienburg wurde unter anderem Isolationspolitik und fehlende Transparenz vorgeworfen. Katrin Muckenfuss sagte, dass den UMA der Kontakt zur Zivilgesellschaft verwehrt würde. Das mache wenig Sinn, weil nicht alle der jugendlichen Asylsuchenden traumatisiert seien und entsprechend geschützt werden müssten. Die Zusammensetzung der Gruppe in der Marienburg sei sehr heterogen. Der Umgang mit den UMA sei erst dann gut, wenn er Interaktionen mit der Umgebung zulasse.
Etrit Hasler mokierte sich darüber, dass die Marienburg zu sehr im ländlichen Abseits liegen würde. Die fehlende Stadtnähe führe zur Isolation. Olivia Eugster blies ins gleiche Horn und strich heraus, dass die Jugendlichen sehr weit gereist seien und sich in Thal abgehängt vorkommen müssten. Hasler doppelte nach, dass von den UMA der Durchblick im sehr komplizierten schweizerischen Asylrecht nicht erwartet werden könne. Die Systematik ihrer Behandlung sei frustrierend.
Muckenfuss, die einräumte, dass sie die Marienburg nicht persönlich kennt, bemängelte die Qualität des UMA-Internats und fragte, ob die in Thal geltenden Strukturen und Anpassungszwänge für die Jugendlichen überhaupt richtig seien. Hasler zweifelte an den Mitbestimmungsrechten der Jugendlichen in der Marienburg und wollte wissen, wie weit ihre religiösen Gepflogenheiten im Internatsbetrieb Berücksichtigung fänden.
Eugster vertrat die Ansicht, dass in der Schweiz bei den jugendlichen Asylsuchenden die vorrangige Kinderrechtskonvention vor allem bei den Aufnahmeverfahren hinter das Asylrecht gestellt würde, was rechtlich nicht statthaft sei. Muckenfuss ergänzte, dass die UMA verwaltet und nicht jugendgerecht behandelt würden.
«Ziel: Stabilität und Ruhe»
Viele dieser Vorwürfe stehen schon länger im Raum, konnten aber bis jetzt nie belegt werden. Auch nicht am Dienstagabend. Podiumsleiter und «Tagblatt»-Redaktor Adrian Lemmenmeier bemühte sich, die Diskussion aus dem rechtlichen Labyrinth auf die Bedürfnisse und Interessen der UMA zurückzubringen.
Patrick Müller, bis 2015 Leiter der Sozialen Dienste der Stadt St.Gallen, wehrte sich gegen die Kritik. Zum Isolationsvorwurf an die Marienburg sagte er, dass die Jugendlichen, wenn sie mit der Behandlung nicht zufrieden seien, jederzeit gehen könnten, was einige auch schon getan hätten. Wohin ist unklar.
Das Internat in Thal sei bemüht, den Jugendlichen Stabilität und Ruhe zu geben, sagt Müller. Ihr Wochenende könnten sie zur Pflege sozialer Beziehungen ausserhalb der Marienburg frei gestalten. Auf den Vorschlag, das Internat in einer Stadt zu platzieren, meinte der TISG-Präsident, dass St.Gallen sicher «not amused» sein würde, wenn eine Institution wie die Marienburg plötzlich auf ihrem Boden stünde.
Zweifeln an der Mitbestimmung der UMA in der Marienburg hielt Müller entgegen, die Jugendlichen hätten sehr viel Freiheiten, zugegebenermassen aber nicht so viele wie in einer normalen Familie. Dafür biete man ihnen Schutz vor gewaltsamen Übergriffen durch andere Jugendliche, vor allem wenn sie Minderheiten angehörten oder beispielsweise homosexuell seien.
Laut Müller besteht ein wichtiger Teil der Tagesstruktur in der Marienburg in Schulunterricht und Ausbildung. Am Vormittag besuchten die Jugendlichen sprachliche und mathematische Fächer, am Nachmittag sei die Lebensgestaltung an der Reihe, beispielsweise Kochen und Haushalten.
Massiver Rückgang
Heute sind von den etwa 160 UMA, die von der TISG betreut werden, rund 50 in der Marienburg, rund 50 in sozialpädagogisch betreuten Aussenwohngruppen und weitere in Pflegefamilien untergebracht. Die meisten von ihnen haben von Gesetzes wegen eine Beistandschaft. Als UMA werden die Jugendlichen in der Regel bis zum Abschluss einer Erstausbildung und maximal bis zum Alter von 25 Jahren betreut.
Die Zahl neu ankommender UMA ist rückläufig; in diesem Jahr sind dem Kanton St.Gallen bisher 20 bis 30 asylsuchende Jugendliche zugeteilt worden. Bevor sie eine Beistandschaft erhalten, wird abgeklärt, ob sich die Eltern oder ein Elternteil ebenfalls in der Schweiz aufhalten. Viele UMA haben keine Papiere.
Gesamtschweizerisch reisten laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) 2015 (bisheriges Rekordjahr) 2’736 UMA in die Schweiz ein. 2018 waren es noch 401, davon 82,2 Prozent männlich und 17,8 Prozent weiblich. Die wichtigsten Herkunftsländer sind: Afghanistan (96), Eritrea (51), Somalia (45), Marokko (29), Syrien (25), Algerien (19), Guinea (18), Sri Lanka (13), Tunesien 11, Pakistan (10), Äthiopien (8), Elfenbeinküste (8), Angola (7) und Iran (7).
Das Fehlen der UMA am Podium am Dienstag hat die Veranstaltung zur Humanitätsfolklore verkommen lassen. Wenn solche Veranstaltungen nur von Einheimischen beherrscht werden, sind sie je nach politischer Agenda – insbesondere in einem Wahljahr – Themen-Krücken. Und damit ist vor allen den UMA nicht geholfen.