Hürdenlauf rund um den Broderbrunnen
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Im «Grünen Gallustal» gibt es viele Beispiele für Begrünungen des Stadtgebietes. Eines davon ist der Broderbrunnnen. Spontan würden wohl alle sagen: Es dürfte keine grosse Sache sein, dort ein paar Bäume und Sträucher zu pflanzen und Sitzbänke hinzustellen. Doch weit gefehlt. Es ist eine Riesensache. Ein regelrechter Hürdenlauf. Der Broderbrunnen ist ein Beispiel für den Spagat zwischen der Vorstellung von einem unbürokratischen Eingriff zugunsten der Natur und den Hindernissen in der Realität.
Die Forderung, das Plätzchen rund um den Brunnen aufzuhübschen, ist schon alt. Mitte der 1990er-Jahre gab es erste Bestrebungen, das damals noch von drei Seiten durch Strassen umfassten Ort aufzuwerten. 1998 legte der Stadtrat dem Grossen Rat (dem heutigen Stadtparlament) ein Projekt samt Kredit von 388’000 Franken zur Neugestaltung vor. Diese hätte unter anderem eine Begrünung und Sitzbänke vorgesehen. Doch dem Parlament war das zu teuer, es lehnte das Projekt ab. Stattdessen entstand für 177’000 Franken die heutige Asphaltwüste.
Zehn Jahre später gab es einen neuen Anlauf: Mitte 2008 reichten die damaligen Stadtparlamentarier Thomas Brunner (Grüne) und Christine Bölsterli (CVP) das Postulat «Dem Broderbrunnen ein würdiger Platz» ein. Darin wollten sie vom Stadtrat wissen, wie der Platz rund um den Brunnen ökologisch aufgewertet werden könne. Doch auch dieser Vorstoss brachte keine Bewegung in die Sache. Der Stadtrat brauchte sagenhafte elf Jahre, um das Postulat zu beantworten – um in der Antwort dem Anliegen grundsätzlich zuzustimmen, es jedoch mit vielen Abers weiter auf die lange Bank zu schieben. Denn die Neugestaltung des Platzes hänge von mehreren anderen Bauprojekten und den damit einhergehenden ökologischen Aufwertungsmassnahmen zusammen: der Neugestaltung von St.-Leonhard-Strasse und Oberem Graben, dem Bau der neuen Bibliothek am Marktplatz und der damit verbundenen Forderung, entlang des Union-Gebäudes eine grüne Insel zu schaffen, etc.
(Hinweis: Jetzt wird es technisch und strassenbaulastig. Wer sich diese Ausführungen sparen will, kann auch direkt zur Zusammenfassung am Ende des Textes springen.)
Parlament fordert eine grünere Strassengestaltung
Beginnen wir bei der Hauptachse: Das städtische Tiefbauamt erarbeitete ein Betriebs- und Gestaltungskonzept (BGK) für den ganzen Abschnitt der St.-Leonhard-Strasse und des Oberen Grabens von der St.-Leonhard-Brücke bis zum Schibenertor. Dieser sollte in vier Etappen neugestaltet werden. Das erste Teilstück von der Brücke bis zur Gäbrisstrasse wurde ab 2019 umgebaut. Doch das Projekt für das rund 170 Meter lange zweite Teilstück von der Gäbrisstrasse bis zur Kornhausstrasse erlitt vor zwei Jahren im Stadtparlament Schiffbruch. Auf Antrag der Liegenschaften- und Baukommission wurde es zurückgewiesen, verbunden mit dem Auftrag, im ganzen Abschnitt bis zum Schibenertor Tempo 30 einzuführen, die Strasse durchgehend auf zwei Spuren zu reduzieren, Lichtsignale für Fussgänger:innen abzuschaffen, mehr Bäume zu pflanzen, möglichst grosse versickerungsfähige und begrünte Flächen zu schaffen und die Parkplätze vor der Hauptpost grösstenteils aufzuheben.
Das Tiefbauamt muss nun also nochmals über die Bücher und das BGK überarbeiten. Und zwar nicht nur für den betreffenden Abschnitt, sondern für die ganze Strasse bis zur Poststrasse, weil die ganze Strasse ein zusammenhängendes Gebilde ist. Da an der St.-Leonhard-Strasse von der Gäbrisstrasse bis zum Schibenertor – gemäss Auftrag des Parlaments – künftig Tempo 30 herrschen und es je Richtung nur noch eine Fahrspur geben soll, prüft die Stadt zwischen der Kornhausstrasse und der Gäbrisstrasse ein sogenanntes FLOZ, das fussgängerstreifenlose Ortszentrum. Dies will sie jedoch nicht tun, ohne es vorher in einem Echtversuch zu testen.
Einen ersten Test will die Stadt aufgrund der Fuss- und Autoverkehrsmengen – beim Zebrastreifen auf Höhe Gutenbergstrasse sind es in der Abendspitzenstunde zwischen 17 und 18 Uhr rund 820 Fahrzeuge und 2100 Fussgänger:innen – nicht im betreffenden Bereich der St.-Leonhard-Strasse durchführen, sondern an der weniger befahrenen und gequerten Kornhausstrasse (Höhe Neumarkt), wo sie FLOZ ebenfalls als dauerhafte Lösung prüft. Dort hätte der Test im vergangenen Sommer durchgeführt werden sollen. Gegen die probeweise Einführung von Tempo 30 während zweier Monate gingen jedoch Einsprachen ein. Dass man dort kaum je schneller als 30 km/h fahren kann – geschenkt.
So lässt der Test immer noch auf sich warten – und blockiert folglich auch die Überarbeitung des BGK für die St.-Leonhard-Strasse und den Oberen Graben. Für einen umfassenden Variantenentscheid seien die Erkenntnisse zu FLOZ erforderlich, sagt Christian Hasler, Leiter des städtischen Tiefbauamts. Dieser Variantenentscheid habe Einfluss auf die Strassenbreite, denn bei FLOZ brauche es als zusätzliches Sicherheitselement in der Strassenmitte einen Streifen von rund einem Meter Breite.
Doch warum nicht auf FLOZ verzichten und einfach einen Fussgängerstreifen ohne Lichtsignal planen, wie es das Parlament fordert? Das sei dort selbst bei Tempo 30 «aufgrund der sehr grossen Anzahl an Querungen bei einem ungesteuerten Fussgängerstreifen ohne massive Auswirkungen auf Verkehrsfluss nicht möglich», sagt Hasler. Apropos Tempo 30: Die Stadt hat Ende September die entsprechende Verkehrsanordnung für den ganzen Abschnitt von der Gäbrisstrasse bis zum Schibenertor publiziert. Wenig überraschend sind Einsprachen dagegen eingegangen. Das Urteil steht noch aus. Auch dieser Entscheid wird richtungsweisend für die Gestaltung der Strasse sein.
Was passiert mit der Busspur?
So weit, so kompliziert. Doch es wird noch komplizierter: Denn schliesslich sollen auch der Rest der St.-Leonhard-Strasse und der Obere Graben (bis zum Schibenertor) entsprechend dem BGK umgestaltet werden. Die zentrale Frage sei, wie beziehungsweise wofür man die inzwischen nicht benötigte Busspur zwischen Poststrasse und Schützengasse umnutzen wolle, sagt Hasler.
Der Heimatschutz St.Gallen/Appenzell Innerrhoden hatte 2019 die Idee eines «Baumboulevards» ins Spiel gebracht. Entlang des alten Stadtgrabens sollen bis zu 90 neue Bäume gepflanzt werden. Die Stadt nahm die Idee auf und liess sie auf die Machbarkeit prüfen. Derzeit sei noch offen, wie der zusätzliche Platz, der durch den Wegfall der Busspur resultierte, am besten genutzt werden könne, sagt Hasler. Es stelle sich die Frage, ob dieser Platzgewinn für die Vergrösserung des Aussenraumes und damit auch der Grünflächen oder zugunsten von Velostreifen genutzt werden solle. Wenn in beide Richtungen ein Velostreifen von jeweils 1,5 Metern markiert würde, wäre der Platzgewinn praktisch aufgebraucht. Für zusätzliche Bäume bliebe dann nicht mehr viel – oder gar kein – Platz.
Doch warum braucht es dort Velostreifen, wenn es quasi parallel dazu an der Bahnhofstrasse und der Vadianstrasse schon Veloverbindungen gibt? Und können sich Velos und Autos die Fahrbahn bei Tempo 30 nicht teilen? Hasler gibt zu bedenken, dass der Obere Graben eine Primärroute für den Veloverkehr sei. Auf solchen seien gemäss Richtplan separate Velostreifen oder Velowege vorgesehen. Ausserdem seien dort aufgrund der Verkehrsmenge allein schon aus Sicherheitsgründen Velostreifen erforderlich.
Er könne diese Aussagen nachvollziehen, sehe aber auch andere Möglichkeiten, sagt Verkehrsplaner Claudio Büchel. Bei Tempo 30 könne man dort gut auf Velostreifen verzichten. Büchel führt die Schwarzenburgstrasse in Köniz als Beispiel an, die Hauptachse im Berner Vorort sowie die wichtigste Verbindungsstrasse in die Hauptstadt. Auf ihr herrsche ebenfalls Tempo 30, es verkehrten rund 18’000 Fahrzeuge pro Tag sowie eine Buslinie im Drei-Minuten-Takt – also deutlich mehr Verkehr als in St.Gallen. Dort habe man zwei gemischte Fahrbahnen für Autos und Velos von jeweils 3,75 Metern Breite sowie einen 2 Meter breiten Mehrzweckstreifen in der Strassenmitte realisiert. Die 9,5 Meter breite Schwarzenburgstrasse (zum Vergleich: Die St.-Leonhard-Strasse und der Obere Graben sind etwa zwischen 10,5 und 11 Metern breit) sei so «sehr attraktiv für den Veloverkehr», sagt Büchel. So attraktiv, dass Köniz 2022 mit dem Prix Velo Städte ausgezeichnet wurde.
Eine weitere Möglichkeit wären gemäss Büchel sogenannte Kernfahrbahnen, also eine Strasse mit jeweils einem Velostreifen am Rand und einer Fahrbahn ohne Mittelstreifen für die Autos. Dies sei möglich bei einem durchschnittlichen Tagesverkehr von bis zu 10’000 Fahrzeugen und einer Strassenbreite von mindestens 8,5 Metern. Auf Höhe des Grabenpärkleins zählte das Tiefbauamt im Mai 2022 durchschnittlich 9800 Fahrzeuge.
Büchel plädiert dafür, bei der Lösungsfindung den verschiedenen Anliegen gerecht zu werden. Für viele, insbesondere für die Velolobby, sei eine Strasse nur dann velofreundlich, wenn sie eine markierte Spur habe, am liebsten sogar baulich abgetrennt sei. Von daher seien auch die Vorgaben im Richtplan verständlich. «Der Wunsch nach mehr Flächen fürs Velo scheint mir ebenso berechtigt wie der Wunsch nach mehr Bäumen im Strassenraum», sagt Büchel. Beispiele wie Köniz zeigten, dass man die beiden Bedürfnisse nicht gegeneinander ausspielen müsse, sondern dank Tempo 30 einen guten Kompromiss finden könne.
Welche Variante der Stadtrat dem Parlament vorlegen werde, sei noch unklar, sagt Hasler. Ob Velostreifen, ein Baumboulevard oder – sofern möglich – eine Kombination aus beidem, sei letztlich ein politischer Entscheid.
Fahrspuren am Oberen Graben als Zankapfel
Es gibt ein weiteres «Problem»: In der Vision des «Grünen Gallustals» ist die Reduktion der Fahrspuren am Oberen Graben im Bereich des Multertors von heute zwei auf eine zwingend, um rund um den Broderbrunnen genügend Platz zu schaffen für einen Grünraum, der diesen Namen auch verdient. Wie schwierig es werden dürfte, dieses Anliegen umzusetzen, zeigte sich im September 2019. Damals führte die Stadt den Verkehr zwischen dem Fussgängersteifen bei der Vadianstrasse und der Einmündung in die St.-Leonhard-Strasse versuchsweise einspurig, was in Spitzenstunden zu Rückstaus führte.
Die Reaktionen der Autolobby fielen heftig aus, es wurde gar ein Versuchsabbruch gefordert, auch von einigen bürgerlichen Parlamentarier:innen. Hasler räumt ein, dass das Ergebnis des Testbetriebes für die Automobilist:innen «schlechter als erwartet» ausgefallen sei. Aber nicht so schlecht, dass eine dauerhafte Reduktion auf eine Spur nicht denkbar wäre. Es brauche eine Abwägung zwischen den Verbesserungen für die Fussgänger:innen und den Nachteilen für den rollenden Verkehr.
Doch damit nicht genug der Abhängigkeiten. In der Antwort auf die Interpellation von 2008 hielt der Stadtrat fest, dass «die geplante Neugestaltung des Broderbrunnens nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem städtischen Raum Multertor betrachtet werden» soll. Deshalb gaben Stadtplanung und Tiefbauamt eine Vorstudie in Auftrag. Dazu heisst es in allerschönstem Beamtendeutsch: «Die Studie hat zum Ziel, anhand einer Analyse der historisch gewachsenen Raum- und Freiraumstruktur die verkehrlichen Rahmenbedingungen zusammenzustellen und Lösungsansätze zu erarbeiten, die Raumgliederung und Raumnutzung zu definieren und schliesslich eine Entwicklungsstrategie aufzuzeigen.»
Die erwarteten Ergebnisse der Vorstudie hätten nicht nur einen Einfluss auf die Gestaltung des Bereichs des Broderbrunnens, steht da weiter. Sie würden auch die Planungen zur Neugestaltung der Multergasse und allenfalls der Vadianstrasse, zur verkehrlichen Ausgestaltung des Oberen Grabens im Abschnitt Frongartenstrasse bis St.-Leonhard-Strasse sowie zum Betriebs- und Gestaltungskonzept St.-Leonhard-Strasse und Oberer Graben im Abschnitt Schützengasse bis Schibenertor beeinflussen.
Wie ein Staubkorn im Kosmos
Zusammengefasst: Irgendwie hängt zwischen Schibenertor, Multertor und Hauptbahnhof alles zusammen. Wie im grossen Kosmos da draussen, in dem ein verirrtes Staubkorn den Lauf der Geschichte ändern kann. Ja, es macht Sinn, Zusammenhängendes zusammenhängend zu denken und zu entwickeln. Aber macht es sich die Stadt nicht zu einfach (oder eben zu kompliziert), wenn sie die Neugestaltung eines so kleinen Plätzchens in der Innenstadt davon abhängig macht, ob gefühlt am anderen Ende von St.Gallen ein Fussgängerstreifen ein Lichtsignal bekommt oder ein Sicherheitsstreifen aufgemalt wird oder nicht? Könnte sie nicht einfach entscheiden, dass es rund um den Broderbrunnen zwei Meter mehr Grünfläche zulasten der Strassen gibt, völlig unabhängig davon, wie genau diese dereinst aussehen werden?
Nein, das sei planerisch nicht sinnvoll, sagt Tiefbauamtsleiter Christian Hasler. Denn damit würden andere Entscheide für den gesamten Strassenzug vorweggenommen beziehungsweise andere Lösungen verunmöglicht. Oder anders gesagt: Ja, sie könnte es, indem sie ein Präjudiz zumindest für die Breite der Strassen schaffen würde.
Es wird also noch viel Wasser aus dem Broderbrunnen plätschern, bis auch nur ein Bäumchen gepflanzt wird. Ungefähr bis Ende 2023 soll das überarbeitete Betriebs- und Gestaltungskonzept fertig sein. Und vielleicht liegt bis dann auch ein Gerichtsentscheid zur Einführung von Tempo 30 vor (wobei ein Weiterzug an höhere Instanzen immer noch möglich wäre). Wenn alles glatt läuft, könnte das Parlament ungefähr Ende 2024 grünes Licht geben. Dann sieht man hoffentlich, was es fürs Grün bedeutet.
Ach ja: Ein weiteres Beispiel für einen neuen Grünraum im Stadtzentrum ist die Offenlegung der Steinach entlang der Moosbruggstrasse und der Lämmlisbrunnenstrasse. Man darf ja träumen.