Behördenarroganz und rote Sündenböcke

Schon 1970 platzte die HSG aus allen Nähten. Regierung und Grosser Rat des Kantons St.Gallen befürworteten den Ausbau einhellig. Sie machten die Rechnung aber ohne das Stimmvolk. Stadt und Land beerdigten die Uni-Erweiterungspläne für die nächsten 15 Jahre.
Von  Roman Hertler
Der HSG-Neubau auf dem Rosenberg in einer Aufnahme von 1963. (Bild: ETH-Archiv)

Der Kanton St.Gallen stimmt am 30. Juni über den Uni-Campus am Platztor ab, weil der Platz in den bestehenden Gebäuden knapp wird. Die Hörsäle sind überfüllt. Im Kantonsrat stellt sich niemand grundsätzlich gegen das Neubauprojekt, das nicht zuletzt Hochschule und Stadt einander wieder näherbringen soll. Nur die SP-Grünen-Fraktion hat im Februar gefordert, die Abstimmung über den Campus zu vertagen, damit die HSG Zeit bekommt, ihr ramponiertes Image (zweifelhafte Nebenbeschäftigungen einiger Professoren und des Rektors, Spesenaffären) aufzupolieren. Dies sei nicht nötig, befand die bürgerliche Ratsmehrheit. Sie will vorwärts machen und jetzt abstimmen.

1970 stand die HSG vor einer ähnlichen Situation. Auch damals war die Raumnot ausgewiesen, die Studierendenzahl war seit 1950 von 400 auf über 1700 gestiegen. Beim Bezug des Neubaus auf dem Rosenberg 1963 waren es 1200. Auch 1970 waren sämtliche Fraktionen – zumindest auf kantonaler Ebene – für den Erweiterungsbau. Widerstand erwuchs vor allem aus städtischen SP- und Gewerkschaftskreisen. Behörden und Hochschule gaben sich dennoch siegesgewiss. Am 27. September folgte dann die grosse Ernüchterung: 51 Prozent der Stimmberechtigten des Kantons schickten die HSG-Erweiterung bachab; in der Stadt waren es 61 Prozent.

«Extremistische Studentenkreise haben sich zu unliebsam bemerkbar gemacht mit ihrem Gehaben und ihren Forderungen, als dass das Volk bereit wäre, für die Studierenden ohne weiteres neue Opfer zu bringen.»
(St.Galler Tagblatt)

Zu den 21 Millionen Franken Kosten hätten Kanton und Stadt, welche sich die Trägerschaft der HSG damals noch teilten, 5,2 bzw. 5,8 Millionen beitragen sollen. Der Bund wäre für die restlichen 10 Millionen aufgekommen. Die HSG selber wurde nicht zur Kasse gebeten, obwohl sie Geld gehabt hätte. In Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs und mit zu- nehmender Unterstützung des Bundes wurden die Professorengehälter aufgebessert, der Lehrkörper und die Verwaltung ausgebaut. In der HSG-Geschichte zum 100-jährigen Jubiläum (1998) ist von einer «goldenen Zeit» die Rede. Weniger goldig war der Ausgang der Abstimmung. Diese peinliche Episode wird im Jubiläumsbuch nur am Rande erwähnt.

HSG-Rektor Willi Geiger hat dafür gesorgt, dass die unliebsamen 68er-«Elemente» an der HSG «ausgeschieden» wurden und dass «an unserer Hochschule in dieser Beziehung Ruhe herrscht», wie er an einer FDP-Versammlung versicherte. (Bild: pd)

Mit Blick auf die kommunalen und regionalen Zahlen wurde klar, «dass die Hochschulvorlage in der Stadt St.Gallen, d.h. in der Standortgemeinde, beerdigt worden ist», schrieb das freisinnige und (zumindest damals) vorbehaltlos HSG-freundliche «Tagblatt». Es sprach von «unterschwelligen, emotionellen» Gründen, die von den Gegnern der Vorlage «recht kräftig herausgestrichen» worden seien. Wer «im Volke etwas herumgehorcht» habe, habe eine gewisse Reserviertheit und Misstrauen gegenüber der Hochschule und den Studierenden im Allgemeinen feststellen können. «Extremistische Studentenkreise haben sich zu unliebsam bemerkbar gemacht mit ihrem Gehaben und ihren Forderungen, als dass das Volk bereit wäre, für die Studierenden ohne weiteres neue Opfer zu bringen. (…) Das ‹rote Schülerbüchlein› und der ‹Rote Gallus› dürften auch nicht zur Beruhigung im Volke beigetragen haben.»

Unliebsame Elemente «ausgeschieden»

Schuld an der «Reserviertheit im Volke» war demnach nicht das arrogante Gebaren der Hautevolee am Rosenberg, sondern die verschwindend kleine sozialistische Studentenschaft. Dabei hatte man sich doch der subversiven Störenfriede frühzeitig entledigt. HSG-Rektor Willi Geiger formulierte es an einer öffentlichen Veranstaltung der FDP St.Gallen-Ost so: «Abgesehen von einigen Elementen, die inzwischen ausgeschieden wurden, dürfen wir mit Genugtuung feststellen, dass an unserer Hochschule in dieser Beziehung Ruhe herrscht.» Das stimmte. Jene Studenten, welche kurz zuvor noch die Hochschule zur «Keimzelle einer erträumten Gesellschaft umfunktionieren» wollten, wurden per Uni-Ausschluss zum Schweigen gebracht, und der grosse schweigende Rest war «einsichtig». Ihnen war das Studieren wichtiger als das Demonstrieren, wie es im HSG-Jubiläumsbuch hiess.

Die katholisch-konservative «Ostschweiz» bezog in mehreren Artikeln klar Stellung für den Hochschulausbau. Bei den eingesandten Artikeln überwogen die Befürworter. Das Ja-Komitee – Präsident war Nationalrat Kurt Furgler, Sekretär der 27-jährige HSG-Assistent Hans-Rudolf Merz – schrieb: «Unsere Hochschule bildet nicht nur die in immer grösserer Zahl benötigten Nachwuchskräfte für die Kader von Unternehmungen und Verwaltung aus, sie leistet mit ihrer praxisnahen Lehre und Forschung auch unserer Wirtschaft und Öffentlichkeit grosse und vielfältige Dienste.»

In derselben Zeitung wurde einem Gegner Platz eingeräumt, der die Ansichten des Pro-Komitees anzweifelte. Gemeinderat Pepi Seitter schrieb, er sei grundsätzlich immer für den Ausbau von Bildungsinstitutionen. Allerdings hatte er auch einige «offene Fragen» betreffend Ausrichtung der HSG, «z.B. ob, was an der HSG gelehrt und geforscht wird, den Bedürfnissen der Allgemeinheit entspreche, ob die Unabhängigkeit der Institute von der Privatwirtschaft gewährleistet sei, wie es mit deren Einfluss auf Lehre und Forschung stehe, ob an der Hochschule nicht nur Manager ausgebildet werden, die ausschliesslich Unternehmerinteressen vertreten lernen und schliesslich ob mit der heutigen personellen Zusammensetzung die Interessen des einfachen Bürgers ausreichend gewährt werden können.»

«Mehr ein- als ausgebildete Herren»

Vor allem die sozialdemokratische «Ostschweizer AZ» hatte den kritischen Stimmen Platz eingeräumt. Man habe drei Wochen vor der Abstimmung als einzige Zeitung Pro- und Kontra-Stellungnahmen abgedruckt, schrieb sie. Von der «HSG-Propagandawalze» habe man sich allerdings nicht überrollen lassen wollen, weshalb man nur die «informativen Beiträge» erscheinen liess, worüber man «auf dem Rosenberg bitterböse» gewesen sei.

«Man muss sich aber fragen, ob es denn der genau gleiche Arbeiter sein soll, der die Hochschule von diesen meist mehr ein- als ausgebildeten Herren von oben herab behandelt wird.»
(Ostschweizer AZ)

In der «AZ» kamen einige Kommentatoren, ebenso wie Pepi Seitter in der «Ostschweiz», zum Schluss, dass von der Ausbildung an der HSG einzig Leute profitierten, die später an den Spitzen der Unternehmen stehen. Ein Kommentator schrieb: «Interesse an solchen Leuten, die eigentlich nichts selber geistig produzieren, sondern nur mit den Geistesprodukten und der Arbeit anderer ihr Geschäft machen, haben also die heute Herrschenden. (…) Man muss sich aber fragen, ob es denn der genau gleiche Arbeiter sein soll, der die Hochschule zu finanzieren hat, der nachher von diesen meist mehr ein- als ausgebildeten Herren von oben herab behandelt wird. Bekanntlich sind unsere Schweizer Konzernherren so ziemlich die konservativsten, was ihre soziale Gesinnung angeht. Diesen Herren soll also der einfache Bürger die Ausbildung bezahlen?»

Ein anderer kritisierte, dass an der HSG nicht wirklich geforscht werde: «Hier geht es ja nicht um die Weitererforschung bisher unbekannter Wissensbereiche, was zur Folge haben könnte, dass man etwas entdeckt, was später einmal verkauft werden könnte und somit unsere Stellung am Weltmarkt sichern würde. Hier an der Hochschule wird vor allem gelehrt, wie man verkaufen kann und erforscht, wo man dies tun soll und bestenfalls wann und wie. Entscheidendes zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation des Untergebenen, indem er zum Beispiel Erleichterungen am Arbeitsplatz hat und zu mehr Freizeit kommt, wird also nicht getan.»

Kurt Furgler, 1970 noch Nationalrat, hat sich als Präsident des Pro-Komitees für den Ausbau der HSG stark gemacht. (Bild: ETH-Archiv)

Abseits der klassenkämpferischen und vorwiegend städtischen Grundsatz-Polemik, die übrigens selbst in der «AZ» nicht unwidersprochen blieb, spiegelte sich in der Gegnerschaft der Hochschulvorlage eine kantonsstrukturelle Eigenheit. Tatsächlich forderten breite Kreise seit einiger Zeit eine neue Gewerbeschule in St.Gallen, was in der Folge den Ruf nach einer Übertragung der Trägerschaft der HSG laut werden liess. Einige wollten den Bund stärker in die Pflicht nehmen, andere, vor allem Städter, den Kanton. Die anderen Universitäten in Basel, Bern und Zürich waren kantonale Einrichtungen. Die HSG war aus der städtischen Handelshochschule hervorgegangen. 1970 stand dem Hochschulrat immer noch der Stadtammann und nicht der Landammann vor.

In Sargans und Wattwil waren neue Mittelschulen erbaut worden. Die Berufsschulen waren allerdings schlecht untergebracht. In St.Gallen, Wil und Uznach waren zwar Gebäude geplant, doch waren sie vor allem durch die Standortgemeinden zu berappen. Und in Buchs wurden sogar die Lehrmeister bemüht, um die Betriebskosten der Schule zu amortisieren. Aus Gewerbekreisen wurde der Ruf nach einer Gleichstellung der Mittel- und der Berufsschulausbildung laut. Und die Bauernverbände ärgerten sich über das schleppende Vorankommen des Projekts einer Landwirtschaftlichen Schule im Rheintal.

Selbstsicheres Vorpreschen wurde bestraft

Die schärfste Opposition, das merkte das Ja-Komitee bald, war nicht aus der Landschaft, sondern aus der Stadt zu erwarten. Die meisten Gegner sprachen sich nicht grundsätzlich gegen die Hochschule aus, sondern dafür, zuerst das Gewerbeschul-Projekt anzugehen und erst danach die HSG, so wie es die Behörden noch vor einiger Zeit angekündigt hatten, später dann aber von einer gleichzeitigen Abstimmung und schliesslich nur noch von der HSG gesprochen hatten. Nun begann das Ja-Komitee zu verkünden, auch das Gewerbeschulprojekt nach Kräften zu unterstützen, und die HSG müsse, wenn sie eine «Schule für alle» sein solle, auch «Platz für alle» bieten können.

«Nach dem gestrigen negativen Volksentscheid gegen die Hochschulvorlage dürfte es ratsam sein, mit der Schaffung der Medizinischen Akademie am Kantonsspital St.Gallen nicht zu pressieren.»
(St.Galler Tagblatt)

Die Beschwichtigungsversuche der Befürworter scheiterten. Die «versteckten Millionen» an zusätzlichen Betriebskosten, die in der Vorlage nicht, in der öffentlichen Debatte aber sehr wohl zur Sprache kamen, schreckten die städtischen Stimmbürger ab. Und in der Landschaft stellten sich nur die Bezirke Rorschach, Werdenberg, See, Wil und am deutlichsten noch das Unterrheintal hinter den Uni-Ausbau. Die Debatte auf dem Land ist in der Tagespresse vom September 1970 schlecht abgebildet.

Am Montag nach der Abstimmung kommentierte ein «Tagblatt»-Redaktor den Scherbenhaufen so: «Ich glaube, man ist in der Hochschule und in der Regierung und im Grossen Rat zu selbstsicher hinter die Hochschulerweiterung gegangen und hat zu wenig auf jene Stimmen gehört, die zu einer vorsichtigeren Gangart geraten haben. Nach dem gestrigen negativen Volksentscheid gegen die Hochschulvorlage dürfte es ratsam sein, mit der Schaffung der Medizinischen Akademie am Kantonsspital St.Gallen nicht zu pressieren.»

Pressiert hat man dann tatsächlich nicht. 1973 entschied sich die Stadt erneut gegen einen Ausbau. Erst Jahre nachdem der Kanton die Trägerschaft der HSG übernommen hatte, stimmte die Kantonsbevölkerung 1985 einer Erweiterung zu. Und das Ja zum Medical Master liess 48 Jahre auf sich warten. Die Stimmbevölkerung durfte genau vor einem Jahr darüber abstimmen.

Der Text erschien im Juni-Heft.