Horizonterweiterung

Geständnis Nummer 2: Das Laster des Fliegens – eine Verteidigung.
 von Ruben Schönenberger
Von  Gastbeitrag

Eigentlich ist mein absolutes Lieblings-Verkehrsmittel der Zug. Genauer gesagt: der Voralpen-Express. Genau, diese alten Züge, die demnächst ausgemustert werden und durch denselben Einheitsbrei aus dem Hause Stadler ersetzt werden wie bald alle Züge im In- und Ausland. Wer den Voralpen-Express kennt, weiss, wo es sich bequem sitzen lässt, wo nicht allzu viele Leute einsteigen, auf welchem Streckenabschnitt die Aussicht links besser ist und wo rechts. 
Nur wenige stimmen mir zu, aber der Voralpen-Express ist das beste Stück öV, das die Schweiz zu bieten hat.

Der Voralpen-Express hat denn auch nur ein einziges Problem. Er fährt nur zwischen St.Gallen und Luzern.
 So gerne ich durch das verschneite Neckertal fahre, so gerne ich in Arth-Goldau in Richtung Tessin umsteige – bei der Gelegenheit: Ich will den Interregio über die alte Bergstrecke zurück! –, und so gerne ich von Luzern wieder wegkomme: Mit dem Aushängeschild der Südostbahn komme ich nicht überall hin, wo ich hin will. Und ich will eigentlich überall hin.

Was also tun, wenn das Verlangen nach einem England-Aufenthalt wieder einmal unerträglich wird? Was tun,
wenn man sich asiatische Grossstädte anschauen möchte? Was tun, wenn man für den Geburtstag von Verwandten 
nach Kanada «muss»? Man fliegt. Und zugegeben, ich fliege im Vergleich mit den meisten ziemlich viel. Auch wenn
 ich nie auf den Gedanken käme, mich nur zum Erlangen eines Vielfliegerstatus einen Tag in den Flieger zu setzen – ja,
das gibt es –, in einem Jahr sammeln sich in der Regel doch einige Flüge an.

Natürlich stelle ich mir da ab und an die Frage, ob sich dieser Lebensstil damit vereinbaren lässt, grundsätzlich 
der Umwelt Sorge tragen zu wollen. Und, seien wir ehrlich: Nein, das lässt es sich nicht. Ich weiss: Wenn ich einen Flug antrete, schade ich der Umwelt. Da kann ich noch so viele Zertifikate kaufen, der Flieger lässt dennoch Abgase in
 die Atmosphäre. Die Zeitung «Der Bund» hatte schon 2016 vorgerechnet, dass ein einzelner Ferienflug nach New York das Klima stärker belastet als ein ganzes Jahr Autofahren. Es bringt mir also auch nichts, dass ich kein Auto besitze und auch sonst wenn immer möglich nicht in ein Auto steige.

Die Haltung, dennoch zu fliegen, mag entsprechend egoistisch wirken. Aber ist sie das wirklich? Natürlich sind Reisen zuallererst für das eigene Wohlbefinden förderlich. Man erweitert wortwörtlich seinen Horizont. Das macht nicht nur Spass, das macht auch das Leben grundsätzlich interessanter, und dem einen oder der anderen würde das auch ganz guttun.

Man mag nun einwenden, dass teurere Flugpreise schnell dazu führen würden, die Anzahl Flüge zu reduzieren. Und da setzen CO2-Abgaben und dergleichen auch an. Aber umgekehrt: Wollen wir wirklich, dass sich Vermögende jeden Flug leisten können, dass die grossen Firmen ihr Personal über den Globus jetten lassen, während der Normalbürger seine Ferien immer zuhause verbringen muss?

Ruben Schönenberger, 1986, ist Journalist und eigentlich noch lieber an Flughäfen als im Flieger. Er lebt in St.Gallen. Dieser Beitrag erschien im Februarheft von Saiten.