Homo collector und seine greifbaren Kosmologien

Gedanken über Sinn und Bedeutung des Sammelns

«Pul­vis et um­bra su­mus», liess uns Ho­raz wis­sen. «Wir sind Staub und Schat­ten» – und das ist ei­ner der Grün­de, war­um wir von Samm­ler­lei­den­schaft ge­trie­ben sind. Nicht nur Jä­ger ist der Mensch, son­dern auch Samm­ler. Sam­meln ist ei­ne an­thro­po­lo­gi­sche Kon­stan­te.

Es fängt schon in der Kind­heit an und zieht sich durch das Er­wach­se­nen­al­ter. Das Zu­sam­men­tra­gen von Din­gen fin­det man in al­len Kul­tu­ren. Von ge­press­ten und ge­trock­ne­ten Blu­men, Stei­nen oder Fe­dern über Tex­ti­li­en, Pup­pen, Mo­dell­ei­sen­bah­nen, Pla­ka­ten, Ter­ri­nen, die Gott­hei­ten be­hau­sen, Sei­fen, grü­ne Bier­do­sen, Plas­tik­tü­ten, Ser­vi­et­ten, Stoff­tie­re, Ob­jek­te, die Erd­bee­ren ab­bil­den, Kunst, Bü­cher bis zu Sand und den be­rühm­ten Brief­mar­ken … Es gibt nichts, was es nicht wert wä­re, ge­sam­melt zu wer­den. Wir be­lä­cheln ei­ne Samm­lung von Bier­un­ter­set­zern und be­stau­nen ei­ne Samm­lung von Old­ti­mern.

Über ei­ne kul­tu­rell le­gi­ti­mier­te Samm­lung gibt es ei­nen Wert­kon­sens. Wir un­ter­schei­den gu­ten von schlech­tem Ge­schmack, Po­pu­lär- von Hoch­kul­tur. Mu­se­en, Bi­blio­the­ken und Sach­kun­di­ge sam­meln auf «ge­ho­be­nem Ni­veau». Sie be­wah­ren kei­ne schnö­den Kon­sum­gü­ter oder an­de­re Ge­gen­stän­de zwei­fel­haf­ten kul­tu­rel­len Werts. Die­se wer­den dem «wil­den Sam­meln» zu­ge­rech­net – nur Kin­der, Ver­rück­te und Kunst­schaf­fen­de ge­hen die­ser Pas­si­on nach. Und wir, die durch in­dus­tri­el­le Mas­sen­pro­duk­ti­on ei­ner My­ria­de von Din­gen, die man er­wer­ben kann, aus­ge­setzt sind.

Wir sam­meln pri­vat und in­sti­tu­tio­nell. Oft fliesst die Pri­vat­samm­lung ins Ar­chiv, die Bi­blio­thek oder das Mu­se­um ein. In sol­chen Fäl­len wer­den Samm­lun­gen kul­tu­rell le­gi­ti­miert und die Sam­meln­den von ma­te­ria­lis­ti­schen oder gar fe­ti­schis­ti­schen At­ti­tü­den frei­ge­spro­chen.
Der Be­griff des Sam­melns um­schreibt ei­nen be­wuss­ten Pro­zess der Aus­wahl von Samm­lungs­ge­gen­stän­den, die sich durch ein spe­zi­fi­sches Cha­rak­te­ris­ti­kum, das der Samm­ler be­stimmt, von an­de­ren Ob­jek­ten un­ter­schei­den. Je­des Samm­lungs­stück hat ei­ne be­son­de­re Be­deu­tung für den Samm­ler, der ei­ne be­son­de­re Ak­ti­vi­tät im Pro­zess des Er­wer­bens der Samm­lungs­ob­jek­te an den Tag legt. Der Kol­lek­tio­neur liebt es, mit sei­nen Ge­gen­stän­den zu han­tie­ren, sie zu prä­sen­tie­ren und sich mit ih­nen zu um­ge­ben. Er schafft sich ei­ne Welt, de­ren Ord­nung er ganz al­lein be­stimmt: greif­ba­re Kos­mo­lo­gien.

Die ver­schie­de­nen Funk­tio­nen von Sam­meln

Das Zu­sam­men­tra­gen von Ob­jek­ten rund um das Selbst und um die ei­ge­ne Grup­pe dient da­zu, die ei­ge­ne Do­mä­ne ab­zu­gren­zen und so­mit vom Be­reich des an­de­ren zu tren­nen. Die fest­ge­leg­ten Samm­lungs­kri­te­ri­en ste­cken Ter­ri­to­ri­en des Selbst ab. Sam­meln ist al­so iden­ti­täts­stif­tend.

Ein spe­zi­fi­sches Wis­sen oder ei­ne Über­zeu­gung um­kreist die Ge­gen­stän­de, die nach ei­nem stren­gen Aus­wahl­ver­fah­ren in ei­ne Samm­lung auf­ge­nom­men wer­den. Sam­meln macht Wis­sen ding­fest – die­ses kann wis­sen­schaft­li­cher oder re­li­giö­ser Na­tur sein. Je­des Ob­jekt ei­ner Samm­lung birgt Er­in­ne­run­gen und ist als äs­the­ti­sches Phä­no­men er­fahr­bar. Sam­meln baut Brü­cken zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Ge­gen­wart. Samm­lun­gen sind ver­ge­gen­ständ­lich­te Ge­schich­te, so­wohl in­di­vi­du­ell als auch kol­lek­tiv.

Nicht nur An­häu­fung von Be­sitz

Ob­wohl Sam­mel­lei­den­schaft zu den Ei­gen­schaf­ten des Men­schen ge­hört, ist die Vor­stel­lung vom Sam­meln als An­häu­fung von Ei­gen­tum nicht uni­ver­sell; ge­nau­so we­nig wie die Idee, dass Iden­ti­tät auf ei­nem Reich­tum an Ob­jek­ten, Wis­sen, Er­in­ne­run­gen oder Er­fah­run­gen grün­det.

Die­ser sich auf west­li­che Denk­tra­di­tio­nen be­schrän­ken­de «pos­ses­si­ve In­di­vi­dua­lis­mus» geht auf das 17. Jahr­hun­dert zu­rück, in wel­chem der Be­sit­zer als idea­les Sub­jekt auf­kommt. Die Kunst- und Wun­der­kam­mer, und da­mit der Vor­läu­fer des Mu­se­ums, ist ge­bo­ren. Herr­scher, Fürs­ten und Ge­lehr­te rich­ten sich Samm­lungs­räu­me ein, in de­nen sie «ar­ti­fi­ci­alia» (von Mensch­hand Ge­schaf­fe­nes), «na­tu­ra­lia» (Wer­ke der Na­tur), «sci­en­ti­fi­ca» (wis­sen­schaft­li­che In­stru­men­te), «exo­ti­ca» (Ob­jek­te aus fer­nen Län­dern) und «mi­ra­bi­lia» (wun­der­sa­me Ge­gen­stän­de) an­häu­fen. Sie de­mons­trie­ren Macht und Reich­tum des Be­sit­zers und bil­den ei­ne Welt­an­schau­ung so­wie ei­nen spe­zi­fi­schen Wis­sens­stand ab.

Wenn man da­von aus­geht, dass Sam­meln nicht not­ge­drun­gen mit Ei­gen­tum ver­bun­den und Iden­ti­täts­kon­struk­ti­on auch oh­ne Be­sitz mög­lich ist – wie soll man sich ein sol­ches Sam­meln vor­stel­len?
Un­ter Be­rück­sich­ti­gung selbst­ge­wähl­ter Kri­te­ri­en fil­tert das sam­meln­de Sub­jekt das En­sem­ble von Ge­gen­ständ­li­chem und Un­ge­gen­ständ­li­chem, das für die Ge­sell­schaft ei­nen Ma­kro­kos­mos bil­det, und kon­stru­iert mit den Samm­lungs­ob­jek­ten ei­nen Mi­kro­kos­mos.

In künst­le­ri­schen Pra­xen zei­gen sich vie­le Vor­bil­der: In der Land Art und Na­tur­kunst ar­bei­ten Ri­chard Long und An­dy Golds­wor­t­hy mit ge­sam­mel­ten Stei­nen, Blät­tern und Zwei­gen, die häu­fig als Neu­an­ord­nun­gen in si­tu ver­blei­ben. Paul Thek hat in sei­nen Aus­stel­lun­gen in Mu­se­en zeit­ge­nös­si­scher Kunst in Ams­ter­dam, Stock­holm und Lu­zern mit Ob­jek­ten ge­ar­bei­tet, die er aus Be­stän­den an­de­rer Mu­se­en sam­mel­te. Ganz re­zent zeig­te das Kunst­kol­lek­tiv Ma­dame Eu­ro­pe in St.Gal­len ei­ne Samm­lung von Ge­gen­stän­den, die pri­va­te Leih­ge­ber zur Ver­fü­gung stell­ten. An­ge­rei­chert war die künst­le­ri­sche Po­si­ti­on mit Din­gen aus lo­ka­len Bro­cken­stu­ben, die nach Aus­stel­lungs­ab­bau wie­der an die­se zu­rück­gin­gen.

Kos­mo­lo­gie und Di­gi­ta­li­sie­rung

Die­se Bei­spie­le ver­deut­li­chen, dass nicht Be­sitz die Es­senz des Sam­melns ist, son­dern das Er­schaf­fen ei­ner Kos­mo­lo­gie – ei­ner Welt, die in sich schlüs­sig ist. Da­mit er­schei­nen De­bat­ten über Be­sitz­rech­te auf Samm­lungs­ge­gen­stän­de und gan­ze Samm­lun­gen, die ak­tu­ell in kul­tu­rel­len und wis­sen­schaft­li­chen Ein­rich­tun­gen ge­führt wer­den, in ei­nem an­de­ren Licht. Ob­ses­sio­nen, die sich in der ei­ge­nen kul­tu­rel­len Pra­xis zei­gen, wer­den auf den an­de­ren pro­ji­ziert, so­dass kein Mu­se­um um Pro­ve­ni­enz­for­schung und Re­sti­tu­ti­ons­ver­su­che her­um­kommt.

Ein gros­ser An­teil der zur Ver­fü­gung ste­hen­den Mit­tel wird in Di­gi­ta­li­sie­rungs­pro­jek­te in­ves­tiert. Al­le Samm­lun­gen sol­len, wenn mög­lich, in ih­rer Ge­samt­heit on­line al­len Men­schen zu­gäng­lich sein. Aber sind wirk­lich De­pot­be­stän­de zu­gäng­lich oder nur di­gi­ta­le Bil­der der in­ven­ta­ri­sier­ten Ob­jek­te mit mehr oder we­ni­ger um­fas­sen­den In­for­ma­tio­nen? Und auch wenn mit der Stra­te­gie der Di­gi­ta­li­sie­rung de­mo­kra­ti­sche Idea­le ver­folgt wer­den, kann man mit Bits and Bytes greif­ba­re Kos­mo­lo­gien schaf­fen?

ALEXANDRA SCHÜSSLER, 1969, ist Kulturanthropologin und hat in Amsterdam promoviert. Sie kuratiert und gestaltet Ausstellungen und lehrt an Kunsthochschulen im In- und Ausland. 2024 schuf sie im Textilmuseum St.Gallen die Ausstellung «All You CanNOT Eat».
alexandraschuessler.com

Lust und Last des Sammelns – Podiumsdiskussion, moderiet von Alexandra Schüssler: 24. März, 19 Uhr, Raum für Literatur St.Gallen

Schuessler