Holy shit, heilig’ Abend
Alle Jahre dasselbe Lied. Am 24. Dezember zwischen 18:30 und 22:00 entvölkert sich die Stadt komplett, weil wirklich alle ihre heuchlerischen drei Stunden mit der Familie verbringen über einem phantasievollen Fondue Chinoise mit Smalltalk über wer was wo nicht wegarbeitet und ob jetzt endlich Nachwuchs in Planung sei. Ab 22:00 kommen dann aus allen erdenklichen Löchern die nervigen Heimkehrenden gekrochen, die vor Jahren nach Olten oder Worb geflüchtet sind, weil sie zwar einen Job brauchten, aber keine Lust hatten, ins Chancental zu pendeln. Da aber niemand weiss, was in den ominösen drei Stunden zuvor in der Stadt passiert, haben wir nach langem Überlegen den Mut gefasst, es für euch herauszufinden. Mit Zigaretten und Schreibzeug bewaffnet zog euer Genosse durch die Strassen und versuchte, nicht am Galgen zu landen. Einige Becher kühlen Hopfentees verhalfen zu halbwegs soliden Nerven.
17:37
Tiefer Nebel, feuchte Kälte. Die Stadt zeigt sich von der Arschlochseite. Ein hässiger Alter mit tanzender Kippe im Mund hustet mir vorwurfsvoll ins Gesicht.
17:43
Eine Marronischale knackt laut unter meinen Füssen, ein serbisch telefonierender Opa betrachtet teilnahmslos ein gerade nutzlos gewordenes Schaufenster mit Dingen, die sich zur Weihnacht niemand wünscht. Oben auf dem Gallusplatz befehlen sich ein paar Nasen aufgesetzt frohe Festtage. Man glaubt es ihnen nicht.
17:58
Es gibt Leben auf dem Picobelloplatz. Ein Kunstadventskalender in 24 Fenstern, die glücklicherweise nicht allzu weinachtlich gestaltet sind. Kinder rutschen über einen gräulichen Schneepflugresthaufen, es gibt Glühwein und Punsch-ohne-Spass-drin. Ein Saaltext wird verteilt, der sich durch ein wohltuendes Mass an krimineller Energie auszeichnet: «Scherben bringen glücklich sein» erzählt die lebensnahe Geschichte einer eingeworfenen Scheibe.
18:10
Der Glühwein hat zu wenig Zucker.
18:17
Ein brötiger Phlegmatiker verkündet mit Friedhofsstimme «du, mo gönd etz go ässe, gäll». Ein Hund mit ADHS schifft mitten in den glühweinsaufenden Menschen an eine Laterne. Die Teekanne vor blutrotem Hintergrund in Fenster N°12 dreht unentwegt und hat psychoaktive Nebenwirkungen.
18:37
Ein depressiver Barpianist schleicht durch die Marktgasse, die eigenen Schuhe hallen gespenstisch. Warum heisst es eigentlich «Weihnachtsmarkt», wenn heute niemand da ist?
18:49
Stranden im Citykebab: Der Service beäugt mich skeptisch nach meiner futterlosen Bierbestellung. Im Radio läuft Ave Maria und Weihnachtspop in Mundart.
18:51
Draussen auf der Kreuzung verprügelt ein Jugendlicher, der nicht mehr mit seinen andächtigen Gefühlen klarkommt, mit einer Petflasche eine Strassenlampe. Seine zwei Kumpels schauen desinteressiert weg.
19:28
Im Citykebab referiert der einzige Gast am Tresen, er sei ja sonst nullkommanull, aber heute voll am Saufen. Auf der Strasse kein Schwein. Ein betrunkenes Ehepaar stolpert lallend aus dem Timeout. Die wissen noch, was gut ist. Timeout und Citykebab werden Ende Woche aber dicht gemacht, weil der Vermieter noch nie an Weihnachten eine offene Beiz gesucht hat. Der Wolf auf seinem Logo findet das nicht so gut, wie er uns auf Anfrage vorheulte.
20:13
Auch die Genossenschaftsbeiz macht erst um acht auf heute. Schnelle, böse Beats suggerieren Leben, wo gerade keines ist. Das dämonische Bermudadreieck wurde von einem noch teuflischeren Fondue Chinoise geschluckt.
20:58
Etwas mit «sexual intercourse» läuft ab Konserven.
21:02
Die beiden Jungs, die sich zuvor noch wechselseitig lustige Sachen auf ihren Smartphones gezeigt haben, rücken sich näher. Andere diskutieren über Bialetti-Kaffeemaschinen.
21:29
Auf die vielen vollgefressenen Bäuche zu warten, die jedes Jahr um 22:00 den Laden verstopfen, ist heute keine echte Option. Gschobe ins Linsebühl. Vielleicht gibts da noch abweichendes Verhalten.
21:53
Auch die Lämmli 51 ist nur von Erwartungsvollen bevölkert, die auf ein fondueverdauendes Heimkehrerpublikum hoffen. So langsam will man das Phänomen aber auch sehen, am alten Steinachufer ist nämlich nicht viel los. Ein älterer Stammgast hustet wohlig: «scheisse, schiisstmi doch aa».
22:14
Ein stadtbekannter Songwriter macht Laptopkaraoke mit Starwarslyrics. Ein Schiebenmützenträger hilft ihm dabei in falschmoll.
22:26, die Beizenuhr zeigt 22:34
Die Heimkehrer sind da. Die Stadt atmet heimlich auf.
22:44
«Und wie findemers zangalle?», fragt eine Heimkehrerin. «Comme toujours», antwortet ein anderer.
23:07
Die einen tun so, als würden sie nicht schon den ganzen Abend warten, die anderen versuchen sich zu verhalten, als wären sie nie woanders gewesen. Wie ob einem unausgesprochenen Vertrag einigt man sich darauf, stoisch über den Glasrand zu gucken und sich in völliger Normalität zu ergehen.
23:54
Die ganze Beiz singt vor Schliessungszeit. Der Wahnsinn kommt spät, aber er kommt todsicher. Das Dampfschiff auf der Steinach hupt vor Freude. Schliessungszeit.
00:33
Das Paparazzo am Blumenbergplatz zelebriert unschlagbare Leichtigkeit. Die richtigen Weihnachten sind nämlich eh erst am 7. Jänner.
01:04
Einige enthusiastische Menschen haben das Konzept des Chillens nicht verstanden und rennen in der Grabenhalle um einen Pingpongtisch. Wenn der Ball grad verspringt, kann man sich zum Tresen durchschlängeln. Die DJ’s scheissen auf Andacht und Trübsal und machen radikal Party.
01:47
Auch im Palace volle Bude. Ein Fondue Chinoise vor der Tür protestiert, es will seine Aufmerksamkeit zurück.
0?:??
Die Döneristas im Kränzlin sind der Inbegriff nächtlicher Gelassenheit. Die Prosciuttofunghi mit Siracha an Cocktailsauce (der globalisierte Speiseplan für Nachtmenschen, die zuviel Grünes in die Zigarette drehten) hätte Jesus sich auch gegeben, wenn er an Weihnachten saufen gegangen wäre.
06:55
Heilige Scheisse.