Holy Night, Riot Night

Es nachweihnachtet in Sankt Gallen – und wie: Pussy Riot kommen in die Grabenhalle. Das Punk-Kollektiv hat in Russland und international für viel Furore gesorgt. Diesen Sommer gerieten drei der Aktivistinnen auch ins Visier der Berner Kantonspolizei.
Von  Roman Hertler
Pussy Riot – hier am Gig in der Mühle Hunziken in Rubigen BE – gastieren am 27. Dezember in der Grabenhalle St.Gallen. (Bild: Nicole Schaad/Mühle Hunziken)

Pussy Riot: Wikipedia definiert sie als russisches, feministisches, regierungs- und kirchenkritisches Kunst-Kollektiv. Richtig gelesen: Kirchenkritik. Was hierzulande höchstens ein müdes Gähnen auslöst, hat in Russland grosse Bedeutung. Das Putin-Regime und die russisch-orthodoxe Kirche sind eng verbandelt. Patriarch Kyrill I. unterstützt den Krieg gegen die Ukraine.

Kirchenkritik ist in Russland also einerseits Regierungskritik, andererseits aber auch Kritik am traditionalistisch-patriarchalen Weltbild, das die russische Kirche vertritt und in weiten Teilen der Bevölkerung mit der russischen Nationalidentität und dem vorherrschenden Rollenverständnis von Mann und Frau verbunden ist.

Pussy Riot: Riot Days. 27.Dezember, 20:30 Uhr, Grabenhalle St.Gallen

grabenhalle.ch

Kein Wunder also, dass Pussy Riot im März 2012 mit ihren «Punk-Gebeten» in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale in Russland eine Lawine der Entrüstung lostraten. Pussy Riot, die sich 2011 im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahlen zusammenschlossen, protestierten bei den «Punk-Gebeten» dagegen, dass Kyrill I. offiziell Wladimir Putins Kandidatur unterstützte und ihn dafür lobte, «dass er die Krümmung der Geschichte zurechtgebogen» habe. Pussy Riot kritisierten unter anderem auch das von der Staatskirche geforderte Abtreibungsverbot.

Vor allem im Westen wurde Pussy Riot zugejubelt, während breite Teile der russischen Bevölkerung den Kopf schüttelten oder, aufgepeitscht durch konservative Medien, Politiker:innen oder religiöse Fanatiker:innen, mit Hass und Gegenprotesten reagierten.

Ungebrochen aktiv

Drei Mitglieder von Pussy Riot bekamen nach der Kathedralen-Performance, die nicht mal eine Minute dauerte, die volle Härte des russischen Machtapparats zu spüren. Die Richterin sprach Jekaterina Samuzewitsch, Nadeschda Tolokonnikowa und Marija Aljochina wegen «Rowdytums aus religiösem Hass» und «grober Unterwanderung der sozialen Ordnung» für schuldig. Die Prozesse wurden international scharf kritisiert.

Samuzewitschs Haftstrafe wurde im Oktober 2012 in eine bedingte Strafe umgewandelt. Sie kam frei, während Tolokonnikowa und Aljochina im Gefängnis respektive im Straflager blieben. Erst Ende 2013 wurden sie dank Putins neuem Amnestiegesetz nach 22 Monaten «frühzeitig» freigelassen – drei Monate vor Ablauf der angesetzten Haftstrafe.

Es gelang dem Repressionsapparat allerdings nicht, den aktivistischen Antrieb von Pussy Riot zu brechen, auch nicht bei jenen Mitgliedern, die inhaftiert waren. Immer wieder fiel das Kollektiv mit Performances auf, etwa während der olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 oder an der Fussball-WM 2018.

Milo Raus Einreiseverbot

Im März 2013, ein Jahr nach den «Punk-Gebeten», inszenierte der St.Galler Regisseur und Kulturtheoretiker Milo Rau, der aktuell mit seinen Rückführungsplänen einer ägyptischen Mumie für Aufsehen sorgt, ein dreitägiges Dokumentationstheater. Dabei wurden drei Gerichtsprozesse gegen russische Kulturschaffende, darunter jener gegen Pussy Riot, nachgestellt.

Rau gab lediglich die Rahmenbedingungen vor und überliess den Ausgang der Verhandlungen den Protagonist:innen. Alle Beteiligten waren auch bei den Originalprozessen involviert oder hatten sich öffentlich dazu geäussert, darunter Künstler:innen und orthodoxe Priester. Der Regisseur liess Weltbilder aufeinander prallen und erlaubte so tiefe Einblicke in die Seele der russischen Gesellschaft und ihr Verhältnis zu Religion und Autorität.

Unvorhergesehen war der Auftritt einer Horde von Kosaken, die sich in konservativen Bürgerwehren zusammengeschlossen haben und glaubten, hier fände eine Kunstaktion zum Schutz von Pussy Riot und gegen die orthodoxe Kirche statt, was sie natürlich verhindern wollten. Ein Jahr später, 2014, ging eine solche Kosaken-Gruppe mit Gürteln auf Mitglieder von Pussy Riot los, als diese ihr Konzert in Sotschi vorbereiten.

Aus Milo Raus Inszenierung ist der Film Die Moskauer Prozesse entstanden. Es blieb bislang seine letzte Aktion in Russland. Als er im Herbst 2013 erneut nach Moskau reisen wollte, stellte er fest, dass die russischen Migrationsbehörden ein Einreiseverbot über ihn verhängt hatten.

Europa-Tour nach Flucht aus Hausarrest

Marija Aljochina wurde seit ihrer Entlassung 2013 mehr als 15 Mal für kürzere Zeit inhaftiert. Seit Herbst 2021 stand sie unter partiellem Hausarrest, weil sie zu Demonstrationen für die Freilassung des gefangenen Oppositionspolitikers Alexey Nawalny aufgerufen hatte. Im April, als Putin schärfer gegen Kritiker:innen am Ukraine-Krieg vorzugehen begann, drohte ihr die erneute Überstellung in ein Straflager. Anfang Mai gelang ihr schliesslich, als Essenslieferantin getarnt, die Flucht nach Littauen.

Offizielle Erklärung der russischen Botschaft, 25. August 2022

[Online-Übersetzung aus dem Russischen, Anm. d. Red.]

Wir haben die Berichte einiger Schweizer Medien («20 Minuten» vom 23. August, «Blick» vom 24. August und «Le Temps» vom 25. August usw.) über die «Touren» der sog. Gruppe «Pussy Riot» in einigen Städten der Eidgenossenschaft zur Kenntnis genommen.

Es ist sehr bedauerlich, dass sich einige Schweizer Kulturinstitutionen aus politischen Gründen entschieden haben, einen Ort für die «Performances» dieser Personengruppe bereitzustellen, die für ihre ungeheuerlichen Eskapaden jenseits von Anstand, Recht und Moral bekannt ist.

Gleichzeitig wissen, wie wir glauben, sowohl die Schweizer Journalisten, die ohne zu zögern über diese sogenannten «Reden» berichteten, als auch die örtlichen Behörden, dass ein Mitglied der «Gruppe» aus dem Hausarrest in Moskau geflohen ist, obwohl ein Gericht dieser Person eine Freiheitsbeschränkung auferlegt hat, und diese Person nun dennoch durch Europa reist, wo sie Interviews mit pauschaler Kritik an der russischen Führung verbreitet.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die absolut obszönen Handlungen, die während der Aufführungen auf der Bühne stattfinden, sowie die Beleidigungen Russlands und seiner Führung nichts mit Kultur oder Kunst zu tun haben und zudem unter Artikel 296 des schweizerischen Strafgesetzbuchs [«Beleidigung eines fremden Staates»] fallen.

Über ihre Erfahrungen aus dem Haftalltag und ihren Aktivismus hat Aljochina das Buch Riot Days geschrieben. Unter diesem Titel touren Pussy Riot jetzt mit einem Live-Projekt, einer Mischung aus gespitteter Erzählung und video-unterstütztem Elektro-Punk-Konzert mit jazzigem Impro-Gebläse, durch Europa. Dabei spenden sie den Grossteil ihrer Ticket- und Merchandise-Einnahmen an ein Kinderspital in Kiew, was auch den leicht erhöhten Eintrittspreis in der Grabenhalle rechtfertigt.

Die Performance in Tübingen diesen Frühling, wo wir mit ein paar Freunden eher zufällig landeten, lässt jedenfalls Grosses erwarten. Nach dem Gig wurde nicht mehr viel gesprochen, die Erlebnisberichte aus Aljochas Gefängnis- und Straflageralltag sind uns doch ziemlich eingefahren.

Im Sommer haben Pussy Riot schon mehrfach in der Schweiz Halt gemacht, etwa in Basel, Zürich und in Rubigen bei Bern. Vor dem Konzert in der Mühle Hunziken haben sich Pussy Riot auch mit der Berner Kantonspolizei angelegt. Diese goutierte es nicht, als drei der Aktivistinnen in Wabern eine Strassenmauer mit der Kilometerdistanz bis zum Krieg in der Ukraine besprayten. Selbiges durften sie dann an einer Mauer der Mühle Hunziken ganz legal nochmals wiederholen.

In Interviews beklagten sie sich danach, eine Kantonspolizistin habe sie gezwungen sich komplett auszuziehen. Erst als man auf dem Posten gewahr wurde, dass es sich bei den Verhafteten um die berühmten Pussy Riot handelte, habe sich der Umgangston schlagartig gebessert. Hoffen wir, dass am 27. Dezember nicht auch die Kapo St.Gallen einfährt. Und wenn, dann bitte recht freundlich.

Immobilienaufwertung: ein originales und legales Pussy-Riot-Graffiti an der Mauer der Mühle Hunziken. (Bild: Verena Sala/Mühle Hunziken)