Hört auf, um Erlaubnis zu fragen!
Kürzlich wiedermal in einer grossen Stadt im Süden Europas residiert. 30 Grad, gutes Essen, gediegene Weinbars, gelassenes Leben allenthalben. Bis spät nachts konnte man ohne gross zu reden einfach nur da sitzen und dem hitzigen Treiben zuschauen. Im Jardin Public diskutierten die Pétanque-Spielerinnen über die Abstände zum Bouchon, auf dem monumentalen Platz vor unserem Restaurant übten die BMX-Fahrer ihre Tricks, und in der Gasse nebenan wurden Stühle und Bänke aus einer Beiz gehievt, weil die heitere Gesellschaft draussen Zuwachs bekommen hatte.
Auch tagsüber überall Betrieb in der Stadt. Der ständige Westwind ist trügerisch, man spürt die Hitze kaum, man sieht sie nur, wenn der Asphalt gleisst. Auf dem Spaziergang raus Richtung Industriegebiet am Mittag dasselbe Bild wie in der Innenstadt: keine Spur von Siesta, überall wird herumgefuhrwerkt, wird Wäsche aufgeleint, werden Kinder bespasst und Sonnenschirme aufgespannt, an jeder Ecke wird gegrüsst, gestritten und debattiert, etwa über die Parlamentswahlen in Frankreich, auf den Spielplätzen, vor den Cafés und in den Eingängen der unzähligen kleinen Läden und Geschäfte, die die Ausfallstrassen säumen. Als würden die Menschen hier den ganzen Tag nichts anderes tun.
Und dann – kommt man zurück in die herausgepützelte Schweiz. Auch in der Gallusstadt hat sich mittlerweile die Hitze breitgemacht, nur wirkt hier das Sommerleben definitiv weniger genuin. Alles ein bisschen verkrampft. Klar, man kann jetzt argumentieren, dass das halt mit den Wetterverhältnissen zu tun hat, in der Ostschweiz sind die Sonnentage schliesslich wesentlich seltener als im Süden Europas, das wirkt sich natürlich auch auf die Mentalität aus. Und auf den Umgang mit dem raren Gut Sonne: Die Drinks müssen möglichst fancy und die Outdooranlässe möglichst standortförderlich sein, damit man irgendwie Kasse und Aufhebens machen kann.
Der Sommer hier will genutzt sein. Bignik-Picknick, Openairkinos, New Orleans, Kulturfestival, Festspiele, Stadtfest etc.: Alles wird abgefeiert und abgenickt mit freundlicher Unterstützung der Behörden. Bewilligungsgoodwill zugunsten der Standortförderung. Und weil der Herbst bereits wieder drückt in unseren Breitengraden. Ist natürlich alles nice, keine Frage, es wollen auch alle dabei sein und sich brüsten mit diesen grossen Kisten, handkehrum zieht man in St.Gallen immer noch gerne die Handbremse, wenn es darum geht, das alltägliche und allnächtliche Aussenleben – abseits der öffentlichkeitswirksamen Grossanlässe – wirklich in Fahrt zu bringen und zu normalisieren.
Man will die Aussengastronomie stärken, kehrt aber trotz guter Erfahrungen während Corona wieder zum alten Bewilligungs- sprich Bezahlregime zurück. Man will «mediterrane Nächte» in der Innenstadt fördern, mit verlängerten Öffnungszeiten bis 1 Uhr, ringt sich aber nur zu einem zweijährigen Pilotprojekt mit Runden Tischen durch, damit die Anwohnerinnen und Quartiervereine «sich auch dazu äussern» können. Und Eigeninitiativen jenseits solcher kommerziellen Gastro- und Eventlobby gestützten Projekte werden oft grad schon zu Beginn ausgebremst.
Kein spontanes Brunnenbaden und keine Hängematten in der Altstadt, keine Buvetten im Stadtpark und kollektives Picknicken nur wenns schicke Drohnenbilder davon gibt. So wird das nix, «Sankt Schlafstadt». Entweder du willst wachsen und dich ernsthaft als urbanes Zentrum am Bodensee etablieren, das etwas auf sich hält, oder du gammelst weiter als durchreguliertes, verängstigtes Provinznest bei plusminus 80ʼ000 Einwohner:innen vor dich hin. Falls du die erste Option wählst, hier drei Denkanstösse in alle Richtungen für ein lebendigeres, unverkrampfteres Outdoorstadtleben:
- «Mediterrane Nächte» und erweiterte Aussengastronomie schön und gut, künftig ruhig alles unkompliziert bewilligen – unter der Bedingung, dass man auch die nichtkommerziellen Räume unterstützt und schützt, statt sie zunehmend zu regulieren und zu beschneiden. Die Stadt gehört allen, der öffentliche Raum ist zum Nutzen da, auch wenn man nicht überall abcashen kann. Zum Stadtbild gehört nicht nur, was in den Hochglanzkatalog passt.
- Wer in der Innenstadt (oder anderen hochfrequentierten Orten) lebt, soll gefälligst kulant sein dem Nachtleben und der Kultur gegenüber und nicht wegen jeder Kleinigkeit die Bullen rufen, sondern erstmal das Gespräch suchen. Und wer dazu nicht bereit ist, soll halt nicht in der Innenstadt wohnen. Oder sich Oropax zulegen. Lärmdiskussionen sind kleinlich und provinziell, in richtigen Städten lacht man darüber.
- Wer in der Stadt lebt und Ideen hat, soll sie auch umsetzen. Weniger fragen und mehr machen, ganz einfach. Wenn etwas «verboten» ist, merkt man es schnell genug – und auch dann findet sich oft ein Weg, sofern man einigermassen gesprächsbereit ist. Entschuldigen ist besser als um Erlaubnis fragen.
Das geht euch zu weit? Tant pis. Natürlich braucht es gewisse Regulative, wenn viele Menschen an einem Ort zusammenleben, aber der Antrieb einer lebendigen Gesellschaft ist Eigeninitiative. Einschreiten kann man dann, wenns nicht funktioniert.
Vielleicht hilft das Verkehrsbild der eingangs erwähnten Stadt zur Erklärung: Dort gibt es zwar unzählige Velowege, Kreisel, Fussgängerzonen und Autostrassen, aber an die Regeln hält sich kaum jemand – und trotzdem funktioniert alles auf wundersame, organische Weise. Weil alle die Augen offen haben, improvisieren und irgendwie aneinander vorbeikommen. Velos und E-Scooter fahren auf dem Trottoir und die Fussgängerinnen spazieren auf dem Radweg, beim Kreisel fährt und läuft eh alles kreuz und quer, und auf den Strassen lassen die Stärkeren den Schwächeren tendenziell den Vortritt. Und wenn ein Rollstuhl oder ein Kinderwagen nicht durchkommt, weil die Gartenbeiz das Trottoir versperrt, helfen alle mit und räumen die Stühle rasch weg. Niemand braucht dafür die Polizei. Das nennt man Zusammenleben.
Dieser Beitrag erschien im Sommerheft von Saiten.