Hitchcock 2.0
Mit seinem neuen Programm «Rear Window 2.0» ist Reeto von Gunten auf Tour - gleich im Doppelpack. Jetzt machte er Station in St.Gallen.
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Äusserst erfolgreich und gut besucht ist Reeto von Guntens neues Stück – so auch am Montagabend in der Kellerbühne. «Rear Window 2.0» nennt es von Gunten, mit Verweis auf ein Meisterwerk der Filmgeschichte, Alfred Hitchcocks «Rear Window» (1954; dt: Das Fenster zum Hof). Im Original liegt der Fotojournalist Jeff mit einem Beinbruch zuhause ans Bett gefesselt und beobachtet gelangweilt das Haus auf der gegenüberliegenden Hofseite. Bald erhält er Einblick in unterschiedlichste Lebenssituationen seiner Nachbarn, von Alten, Einsamen und erfolglosen Künstlern, bis er, mehr und mehr vom Leben der Anderen fasziniert, einem Mord auf die Spur kommt.
2.0 – das inflationär verwendete Anhängsel für die Vorherrschaft des weltweiten Web – verortet die Story. Von Gunten übersetzt die Ohnmacht des Voyeurs ins Heute, und darum geht es an dem Abend: Die Hauptfigur ist zum Sklaven der digitalen Vernetzung geworden, als einzige Waffe dienen Online-Kommentare. Der Gips ist die Abhängigkeit vom Web und damit einhergehend von der Stromversorgung, der Mord wird zum angedrohten Selbstmord der Nachbarin.
Nomophobie und Zürischnurre
Reeto von Gunten, schweizweit bekannte Radiostimme von SRF 3, treibt sich nun schon seit zehn Jahren auf Bühnen rum, mal mit Büchern oder Dias im Gepäck, nun mit der Kombination von klassischer Leseinszenierung und Film auf Leinwand; Mulitmedialesung nennt er das.
In «Rear Window 2.0» arbeitet von Gunten Stockwerk für Stockwerk ab, von oben nach unten bis ins Parterre, und erzählt von Einzelschicksalen. Diese Sequenzen werden vom physisch anwesenden von Gunten gesprochen, die Sprache ist verschlungen und voller Wortwitz (à la «Nomophobie»: die Angst davor, «No mobile» zu haben), und sorry: In seinem Berndeutsch klingen die schönsten Sprachbilder noch schöner. Besonders gut gelingt die Imitation einer Kuratorin mit Zürischnurre, mit der er im gleichen Zug noch den Kunstzirkus der Lächerlichkeit Preis gibt.
Von Gunten im Doppel
Der Film zeigt von Gunten als einen, der es aus lauter Abhängigkeit von seinen digitalen Geräten nicht mehr aus seiner Wohnung schafft. Der Alleinunterhalter ist also im Doppel zu sehen, die Inszenierung bietet eine ungewohnte Erzählstruktur mit durchaus spannenden Momenten, etwa wenn die Trennung aufgehoben wird und die beiden Reetos miteinander zu interagieren beginnen. Doch die Dauer von zwei Stunden ist für dieses Format zu lang. Da helfen auch Beats und Rap-Einsprengsel von Manillio nicht drüber hinweg.
Von Guntens Stück hält wohl einigen im Publikum den Spiegel vor. Der Tonfall des ehemaligen Lehrers schimmert dabei durch, wie beim mantraartig wiederholten «Für aues, wo isch gsii – danke. Für aues, wo no chunnt – ja gärn». Eine Art Müdigkeit dominiert die Stimmung, im Film, in echt, und müde wird auch das Publikum. Am Ende dieser Google-Facebook-Twitter-Blog-Like-Post-Explosion in der Kellerbühne fühlt sich der Kopf an, als ob er fünf pausenlose Stunden im Netz gesurft wäre.
Wegen grosser Nachfrage wird die Tour verlängert bis 2015.