Hippies, Hecht und Hermann-Stollen

Wenn es eine Gemeinsamkeit der jugendkulturellen Bewegungen der letzten Jahrzehnte in St.Gallen – und überhaupt – gibt, dann ist es der Wunsch nach Freiräumen. Entsprechend durchzieht diese Konstante auch das Buch Güllens grünes Gemüse – Ein halbes Jahrhundert Jugendkultur und städtische Jugendarbeit in St.Gallen. Die Jugendarbeiterin Simone Meyer, Jahrgang 1991, hat es im Auftrag der städtischen Direktion Bildung und Freizeit aufwändig recherchiert, dokumentiert und verfasst.
Simone Meyer: Güllens grünes Gemüse – Ein halbes Jahrhundert Jugendkultur und städtische Jugendarbeit in St.Gallen. Mit Interviews von Hanspeter Spörri. Schriftenreihe der Stadt St.Gallen, 2022, Verlagsgenossenschaft St.Gallen.
Buchvernissage und Podiumsdiskussion: 2. Dezember, 17:30 Uhr, Talhof St.Gallen
Themenabend mit Buchvorstellung, Soundlecture und Konzerten (Rams und The Roman Games): 15. Dezember, 18 Uhr, Schwarzer Engel und Grabenhalle St.Gallen
Gegliedert ist das eindrückliche und kurzweilige Überblickswerk nach Jahrzehnten, denen jeweils ein charakteristischer Begriff vorangestellt ist: AUFBRUCH in den 1960er- und 70er-Jahren, sozio- und kulturpolitischer KAMPF in den 80er-Jahren, die zunehmende Bereitschaft der Behörden zum DIALOG in den 90ern, die BEFREIUNG in den Nullerjahren und schliesslich die zunehmende VERNETZUNG in den politisch scheinbar nicht mehr allzu stark aufgeladenen 10er-Jahren – von der Klima- und Genderbewegung gegen Ende des Jahrzehnts einmal abgesehen.
Die Aufbruchstimmung der Nachkriegsgeneration erreichte ab Mitte der 1960er-Jahre auch St.Gallen. In ersten Kommunen wurden neue Formen des Zusammenlebens ausprobiert, im «Kreis» um Goliath-, Katharinen- und Schwertgasse entwickelte sich eine Popkultur- und Musikszene, Hippies und Teddys verkehrten dort, ebenso wie die Rocker, die sich um Beat Cina alias Blacky, dem späteren Jugendhausleiter, zur Motorradgang «Outlaws» zusammengeschlossen hatten.
Erste regionale Rockbands entstanden: Shiver, Kluster, Island und andere. Konzerte, auch mit internationalen Acts, gab es im «Africana», teils auch im Schützengarten-Saal, wo die Prog-Rocker von Gentle Giant und die Beat-Band Casey Jones auftraten, oder im «Ekkehard», wo später auch denkwürdige Abende von Genesis oder The Fall lange nachhallten.
Phönix aus der Garten-Asche
Ende der 70er tauchten die ersten Punks im Kreis auf. Die Forderungen nach nicht-kommerziellen Kultur- und Freiräumen erhielten eine neue Dringlichkeit. Die «IG Chole» kritisierte die ungerechte Verteilung der öffentlichen Kulturgelder. «Schleppscheisse», «Gasseblatt», «Stadtzitig für Züri, Basel und St.Güllen» oder «Shrunk» hiessen einige der unzähligen Fanzines, die in der «Güllener-Bewegung» kursierten. Ur-Punk Lurker Grand, Bro-Records-Gründer Alex Spirig oder Jogi Neufeld organisierten Konzerte. 1986 eröffnete die Genossenschaftsbeiz Schwarzer Engel, der heute – wie das Kinok oder die Genossenschaftsbuchhandlung Comedia – nicht mehr aus dem städtischen Kulturleben wegzudenken wäre.
Die Autonome Republik Garten, das St.Galler Pendant zum 1980 eröffneten Zürcher AJZ, wurde eingerichtet, brannte allerdings schon nach sieben Monaten ab. Im Verdacht hatte man feindlich gesinnte Rocker. Bewiesen wurde nie etwas. Aus der Asche des AJZ erhob sich – wie ein «Phönix», wie es im Buch etwas pathetisch heisst – die Grabenhalle. Das erste Konzert im November 1981 spielte die Deutsche Anarcho-Rockband Schroeder Roadshow.
Parallel zur wilden, konsum- und kapitalismuskritischen Güllener-Bewegung entwickelte sich die angepasstere Club-Szene. Der ehemalige Africana-Haus-DJ Johnny Lopez hatte das «Aff» übernommen und dort die futuristisch angehauchte Disco «Ozon» eingerichtet. Das Trischli wurde zum beliebten Dancing.
Immobilienspekulation und Drogenelend
An Weihnachten 1988 wurde das ehemalige Hotel Hecht am Bohl besetzt. Kritisiert wurden die Immobilienspekulation und der Mangel an günstigen Wohn- und Kulturräumen. Die Polizei räumte die Besetzung rabiat. Die städtische Sozial- und Kulturpolitik versprach in der Folge allerdings, in der Reithalle Ateliers und Proberäume und der mobilen Gassenküche einen fixen Standort zur Verfügung zu stellen.

Linke Punks und rechte Skins auf dem Parkplatz vor der Grabenhalle während eines Konzerts der Band Normahl, 1985.
Gegen Ende der 80er hatte sich auch in St.Gallen die Heroinproblematik massiv verschärft. Nach nur zwei Jahren wurde das Bienenhüsli am Platztor, die erste Drogenabgabestelle der Stadt, geschlossen. Behörden und Stimmbevölkerung wollten die Junkies aus dem Stadtbild verschwinden lassen. Man wies ihnen den Schellenacker zu, ein abgelegenes Gebiet zwischen Olma und Spital, wo sich anfangs der 90er – auch aufgrund der nun mangelnden öffentlichen Wahrnehmung – eine offene Drogenszene entwickelte. Die 1988 gegründete Stiftung Suchthilfe verlor durch die Schliessung der Drogenabgabe den Kontakt zu den Betroffenen zunehmend. Erst allmählich dämmerte den Behörden, dass man die Probleme mit Repression nicht in den Griff bekommt. Institutionell wurden die Gassenarbeit und die Jugendarbeit fortan getrennt und Jugendtreffs in den Quartieren eingerichtet.
In den 90ern differenzierte sich die Musik weiter aus. Szenen begannen sich zu durchmischen. Mundart-Pop und -Rock (Mölä und Stahli, Jack Stoiker), die Techno-, die Hip-Hop- und mit ihr die Skateboard-Kultur sickerten ein. Es gab legendäre Raves im Hermann-Stollen in der Mülenenschlucht oder in der Färberei Sittertal. Jugendarbeiterin Monse Ortego half 1994, im Jahr, als auch Saiten erstmals erschien, bei der Einrichtung des «Babylon» mit, einem Hip-Hop-Szenetreff im sogenannten Abbruchhaus an der St.Leonhardsstrasse.
Später kam darin das erste Rümpeltum unter, nachdem die Polizei kurz hintereinander die Hausbesetzungen im ehemaligen «Bavaria» und an der Tellstrasse aufgelöst hatte. Die autonome Szene hatte Ende der 90er erneut konsumzwangbefreite und entkommerzialisierte Freiräume eingefordert und kritisierte dabei selbst die Grabenhalle, die die Bareinnahmen für sich einbehalten musste, wodurch den Konzertveranstaltenden zur Deckung ihrer Ausgaben einzig das Eintrittsgeld blieb.
Die Szene wird bunter
Räume blieben auch in anderen Szenen wichtig. Die elektronische Musik erlebte in den Nullerjahren eine neue Blüte. Überall ploppten halblegale bis illegale Clubs in Kellern und Garagen auf, die «Lego-Bar», das «Bergrösli», die «Rar-Bar», das «Usego». Um Polizeirepressalien zu umgehen, liess man die Gäste sich in Listen eintragen, womit man kurzerhand zum Vereinsmitglied und die Party damit zum privaten Vereinsanlass wurden und offiziell nicht mehr als öffentliche Veranstaltung galt.

Techno in den 90ern: Dachterrasse an der Wassergasse 24, wo im Keller Raves und im riesigen Dachstuhl Kunstausstellungen, Performances, Mini-Konzerte und -Partys veranstaltet wurden. Hier auf dem Dach: DJ und Organisator Alex Kurmis und ein Freund.
In der Grabenhalle und andernorts gab es Drum’n’Bass-Parties, rund ums Abbruchhaus im Gebiet nördlich des Bahnhofs gab es etliche Raves und andere verrückte WG-Feten. Und für ein halbes Jahr war das «Frohegg» im noch nicht von der Raiffeisen überbauten Bleicheliquartier der Nabel der Alternativkultur, wo es Konzerte, Diskussionen oder Poetry-Slams gab. Auch die Beizenszene blühte: Man traf sich im Hardy’s, im Bierhof, im Catwalk, im Barraca, im Kastanienhof, der heutigen Militärkantine, in der Stickerei, im Tittytwister, im CMC oder in der Tankstelle.
Die Jugend wurde insgesamt mobiler (Handys, Gleis-7-Abo) und zahlungskräftiger, was die Kommerzialisierung in verschiedenen Bereichen vorantrieb. Die Festivaldichte ist wohl nirgendwo so hoch wie in der Schweiz. Mit langen Haaren provozierte man jetzt niemanden mehr. Die Eltern dieser Jugendgeneration war einst selber so unterwegs. Ob das mit ein Grund für die Botellóns ist, die spontanen Massenbesäufnisse, die auch in St.Gallen stattfanden, fragt sich Buch-Autorin Simone Meyer. Sie zählt selber zur Generation der Millenials und pilgerte in dieser Zeit von ihrem Wohnort Heiden regelmässig nach St.Gallen, wo sie mittlerweile lebt.
Im Oktober 2006 eröffneten Leute aus dem Umfeld des «Frohegg», des Hafenbuffets Rorschach und vom Szene-Shop Klang und Kleid das Palace, das für sein erlesenes Musikprogramm bald nationale und sogar internationale Aufmerksamkeit erregte. Schon 2004 wurde in den Hallen des Cargo Domizil der SBB im Güterbahnhof das Kugl eröffnet, wo nebst Elektro-Partys und diversen Konzerten auch regelmässig «Jazz und Wööscht» und ein Schwulen- und Lesben-Café stattfinden.

Das «Motel»: Im früheren Gebäude eines Autohändlers an der Fürstenlandstrasse 149 fanden während kurzer Zeit Kunstaktionen statt – mit Felgenkegeln und Bürogarten, 2009.
Im städtischen Jugendkulturzentrum Flon geht am 16. Dezember 2000 der erste Poetry-Slam in St.Gallen über die Bühne. Etrit Hasler, Daniel Ryser (aka Göldin) und andere werden zu Stars der Szene, St.Gallen zum Slam-Hotspot im ganzen deutschsprachigen Raum. In den Drei Weieren flogen die «Schrägen Vögel» ins Wasser, beim Heldenrennen düsten wild gestaltete Seifenkisten in die Altstadt hinunter, auf dem Marktplatz fand das Strassenmalfestival statt. Der Verein Sequenz experimentierte mit diversen Veranstaltungsformaten und neuen digitalen Möglichkeiten.
Neue Spiessigkeit?
Auch in den 10er-Jahren blühte das kulturelle Leben weiter, auch wenn es im eigentlichen (Lärmklagen, Silent-Discos) wie im übertragenen Sinn (weniger politische Forderungen) insgesamt etwas ruhiger wurde. Offenbar war das Bedürfnis nach Freiräumen mittlerweile gut abgedeckt. Da und dort glimmten erste Befürchtungen über eine neue Spiessbürgerlichkeit der Jugend auf. Spätestens die Klima- und die Frauenstreiks, die auch in St.Gallen zu grossen Bewegungen wurden, liessen das Pendel wieder in eine andere Richtung schwingen. Aber für wie lange?
Simone Meyer gelingt es in Güllens grünes Gemüse, die enorme Vielfalt, die das (jugend-)kulturelle Leben in St.Gallen spätestens seit den Nullerjahren prägte, auf gut 300 Seiten dicht zu verpacken. Sie hat dafür mit Dutzenden Protagonist:innen aus allen Generationen gesprochen und einen enormen Fundus an Bild-, Plakat- und anderem gestalteten Material zusammengetragen. Entsprechend ist jedem Kapitel eine grosszügige und extrem kurzweilige Bildstrecke angehängt. Und Hanspeter Spoerri, Journalist und bis 2020 Präsident des Vereins Saiten, hat für das Buch ausserdem acht Interviews mit Protagonist:innen jugendkultureller Szenen aus allen Generationen geführt.

Das Klimastreik-Kollektiv am 20. Dezember 2018, dem Vorabend des ersten Klimastreiks in St.Gallen, vor der Kanti am Burggraben.
Über die frühen Jahre ist im Buch wenig Neues zu erfahren. Hier haben andere schon viel archivarische und dokumentarische Vorarbeit geleistet. Inhaltlich überschneidet sich Vieles etwa mit den Beiträgen aus dem Neujahrsblatt des Historischen Vereins St.Gallen zu den Sozialen Bewegungen der Ostschweiz aus dem Jahr 2016. Für die Ära der 60er, 70er und 80er punktet Meyers Buch vor allem mit der kompakten Zusammenstellung der Ereignisse in Text- und Bildform. Natürlich kommt es dabei zwangsläufig zu Auslassungen oder blinden Flecken. Auch kann man sich fragen, ob die eine oder andere Geschichte, die zusätzlich in den Randspalten erzählt werden, nicht in den Haupttext gehört hätten, oder umgekehrt.
Das alles ist dem Buch aber nicht abträglich. Der grosse Wert dieser Publikation liegt ohnehin in der Beschreibung der jugendkulturellen Entwicklungen ab den 1990er-Jahren bis heute, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Was unter anderem auch damit zu tun hat, das über all die illegalen Partys in den Nullerjahren und auch später lange nicht gerne öffentlich gesprochen wurde.
Wertvolle Grundlagenforschung
Meyer hält sich mit kritischen und einordnenden Aussagen zurück. Was nicht weiter tragisch ist: Güllens grünes Gemüse ist in erster Linie eine üppige, bekömmlich angerichtete Chronik und liefert nur schon durch die Nennung so vieler Namen und Orte wertvolles Grundlagenmaterial für künftige Analysen. So zum Beispiel auch für Leute, die wissen möchten, wie sich die gestalterische Ästhetik der St.Galler Jugendbewegungen über die Jahrzehnte entsprechend den technischen Möglichkeiten und Design-Trends entwickelt hat: vom Lurker-Flyer bis zur Gaffa-Schnecke. Auch diesem Aspekt sind in jedem Kapitel ein paar Absätze gewidmet.
Dass die eingeflochtene Institutionsgeschichte der städtischen Jugendarbeit stellenweise gewisse Längen aufweist, ist dem Grundauftrag des Buchs geschuldet. Interessant sind dabei insbesondere die Erkenntnisse zum Spiel der Jugendkulturen verschiedener Generationen mit der städtischen Jugendarbeit zwischen gegenseitiger Beeinflussung und Abgrenzung, die Meyer schön herausgearbeitet hat. Und damit auch die Grenzen der Möglichkeiten einer städtischen Jugendarbeit nicht ausspart.
Man hätte sich bei einigen kritischen Themen, die im Buch nur angeschnitten werden, vielleicht noch den einen oder anderen Satz mehr gewünscht. Etwa, wenn Stefan Tittmann von seinem Umgang mit der zeitweiligen Gewaltproblematik im «Lollypop», dem Jugendtreff im multikulturellen Lachenquartier, berichtet. Oder dazu, dass es in den 80ern und 90ern eben auch eine starke rechtsextreme Szene gab, die in der Güllener Szene, vor allem aber auch – und dazu liest man im Buch nichts – gegenüber Migrant:innen für ziemlichen Ärger sorgten. Oder wenn Roberto Bertozzi, ansonsten die Jugend ansprechend durchwegs optimistisch, im Interview die Befürchtung äussert, dass heute – Frauenstreik hin oder her – wieder ein extrem konservatives Frauenbild vorherrscht.
«Die Jugend» wird sich einen Teil ihres Mysteriums wohl immer bewahren, ganz unabhängig davon, ob das nun gut oder schlecht für die gesellschaftliche Entwicklung ist.