Herr Keuner und die Fussball-WM

Zum Abschluss der WM-Hysterie ein relativ unbekannter literarischer Text – auch im Hinblick auf die WM in vier Jahren in Katar, wo sich die Fragestellungen und Widersprüche wohl nochmals zuspitzen werden.
Von  Gastbeitrag

Bertolt Brecht *

Herr K. hörte von einem Dorf mit einem Dorfkönig, über den die meisten Leute sagten, er sei ein geldgieriger Geschäftsmann, ein korrupter Lokalpolitiker und ein skrupelloser Intrigant. Mit einem Wort: ein durch und durch widerlicher Mensch.

Einmal im Jahr machte dieser Dorfkönig seinem Renommee und seinen Geschäften zuliebe ein grosses Fest mit Essen, Trinken, Musik und Unterhaltung. Dazu lud er die Leute aus dem Dorf in den grossen Saal des örtlichen Restaurants ein, dessen Wirt ein guter Freund des Dorfkönigs war und ein ebenso unangenehmer Mensch. Und am Fest durften jeweils auch ein Journalist und ein Fotograf der lokalen Zeitung nicht fehlen.

Fast alle aus dem Dorf gingen hin und begründeten dies damit, dass sie schon immer hingegangen seien und auch ihre Eltern schon vor ihnen. Das Essen sei halt jedes Jahr einfach vorzüglich und der Wein von ausgesuchter Qualität. Ausserdem könne man trefflich mit den Leuten aus dem Dorf plaudern und Meinungen über die Zubereitung der Speisen, die Herkunft der Weintrauben und die dargebotenen Musikstücke austauschen. Wer noch nie dort gewesen sei und die gute Stimmung noch nie erlebt habe, könne im Übrigen gar nicht darüber urteilen.

Nachdem Herr K. diese Geschichte gehört hatte, sagte er: «Wer einen Mächtigen und dessen Bosheit und Ruchlosigkeit durchschaut und sich trotzdem regelmässig von ihm bewirten und unterhalten lässt, ist ein Charakterlump.»

In der Folge wurde Herr K. gefragt, was denn diese Geschichte mit der Fussball-Weltmeisterschaft zu tun habe. Herr K. lächelte und sagte: «Sehr viel. Aber um das zu verstehen, müsste man den Fernseher aus- und den Verstand einschalten.«

* Es dürfte sich bei dieser Keuner-Geschichte um eine Fälschung handeln. Es stimmt zwar, dass im Jahr 2000 im sogenannten Mertens-Bertozzi-Nachlass in Zürich 15 bisher unbekannte Keuner-Geschichten von Bertolt Brecht auftauchten. Richtig ist auch, dass Brecht zur Zeit der in der Schweiz ausgetragenen FIFA-Fussball-WM 1954 noch lebte und dass diese die erste im Fernsehen übertragene und durch Sponsoring beeinträchtigte («Von Sieg zu Sieg mit Magirus-Deutz») Fussball-WM war. Aber Brecht war mehr an Boxen als an Fussball interessiert und hinterliess zu diesem Thema lediglich den Text «Schalke – Hannover als Kunstereignis des Jahres 1929» sowie das Gedicht «Der Spielerwechsel»:

Ich sitze am Spielfeldrand.
Der Trainer wechselt einen Spieler aus.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.
Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.
Warum sehe ich den Spielerwechsel
mit Ungeduld?“

Als Fälscher kommt am ehesten der St.Galler Historiker und Fussballkritiker Hans Fässler in Frage. Stil- und Textanalysen deuten in seine Richtung.