Helikopterstadt

Bei allem Entsetzen über die Eskalation am Freitagabend: Eine Gewaltspirale kann nicht durchbrochen werden, indem man Jugendliche unter Generalverdacht stellt und ihr Grundrecht auf Bewegungsfreiheit ausser Kraft setzt. von Matthias Fässler und Corinne Riedener
Von  Corinne Riedener Matthias Fässler
Wie viel Personal am Sonntagabend aufgeboten wurde, will die Polizei aus taktischen Gründen nicht sagen.

Unweigerlich musste man in den letzten Tagen zum Himmel blicken. Über der Stadt St.Gallen kreiste an zwei Abenden während Stunden ein extra aus Zürich eingeflogener Polizeihelikopter. Sein Rotorenlärm wurde zum Soundtrack dieses Wochenendes. Düster, ohrenbetäubend, bedrohlich. Der Helikopter drehte bald auch seine Runden in den Sozialen Medien und wurde zu einem Symbolbild des Ausnahmezustands, der in dieser Stadt seit gut einer Woche herrscht.

Was mit einer ersten lauen Krawallnacht begann, steigerte sich am vergangenen Freitag zu den bisher schlimmsten Ausschreitungen in der Stadt in den letzten Jahren.

Polizei und Politik hatten im Vorfeld auf Verständnis und Dialog gesetzt. Stadtpräsidentin Maria Pappa war sogar persönlich vor Ort und suchte das Gespräch mit den Jugendlichen, die Polizei hielt sich zurück und setzte erst spät Gummischrot und Tränengas ein. Die Polizei bewies Augenmass, reagierte zunächst mit einer vernünftigen Deeskalationsstrategie. Das sollte sich bald ändern.

Am Sonntagabend hat die Polizei die Grundrechte in der Stadt ausser Kraft gesetzt. Sie kontrollierte willkürlich und in den meisten Fällen ohne konkrete Einzelfallprüfung Jugendliche (und solche, die sie dafür hielt) und verteilte rund 500 30-tägige Wegweisungen (Anm. d. Red.: Am Mittwoch wurde die Zahl auf 650 korrigiert. Die Zahl wurde im Text unten angepasst.).

Die Triage erledigte die Polizei in Vollmontur direkt beim Aufgang zum Bahnhofsplatz: Wer «ins Klischee passte», musste sich in der meterlangen Warteschlange einreihen – «an die Wand, Hände aus dem Sack, ID bereithalten!»

Die Beweislast wurde umgekehrt

Die Selektionskriterien blieben dabei eher diffus. Dunkle Kleidung, Sneakers und Basecap waren per se verdächtig: «Nichts gegen ihren Style, aber sie passen ins Schema.» Der Ton bei der Abfertigung: schroff. «Mitkommen. Sind Sie von St.Gallen oder von ausserhalb? Hier warten.» Auch nach den Gründen für den Aufenthalt in der Stadt wurde nur halbherzig oder gar nicht gefragt. Die Beweislast wurde umgekehrt: Die Jugendlichen mussten beweisen, dass sie sich nicht an Versammlungen und Krawallen beteiligen wollten.

In der Bahnhofshalle wurden die Personalien aufgenommen und die Wegweisung kurz erläutert: «Einkaufen und arbeiten dürfen sie, aber herumhängen in den Weieren oder den Roten Platz ist in den nächsten 30 Tagen verboten.» – «Was heisst rumhängen konkret?» – «Sie wissen genau, was damit gemeint ist.» Am Schluss dieser Prozedur mussten sich die Weggewiesenen mit der ID in der Hand fotografieren lassen, dann gings zur Nebentür hinaus. Ab da hatten sie 30 Minuten Zeit, die Stadt bzw. den Bahnhof zu verlassen.

In der Innenstadt kesselten derweil bewaffnete Robocops, mobile Zivilfahnder auf Fahrrädern und Streifenpolizist:innen Menschen ein, um sie ebenfalls zu fotografieren und mit einer Wegweisung zu belegen. Für die Stadtsanktgaller:innen betrifft das Rayonverbot die Weieren und das Gebiet Innenstadt (Roter Platz, etc.), für Leute von ausserhalb das ganze Stadtgebiet.

Man wurde den Eindruck nicht los: Hier rächt sich gerade eine Polizei an der Jugend, die ihr am Freitag auf der Nase rumgetanzt war. Zahlreiche Jugendliche berichten von wütenden Beamt:innen, die die Kontrollen durchführten. Und auch zahlreiche Journalist:innen mussten erleben, wie herrisch gewisse Polizist:innen auftraten: «Jetzt ist dann aber genug fotografiert!»

Eine aufgeladene und komplett verstellte Debatte

Die Bilanz des Sonntagabends: 650 Wegweisungen, 60 Festnahmen. Aus der Sicht der Polizei ein voller Erfolg, da so weitere Ausschreitungen hätten verhindert werden können.

Nur: Eine Polizei, die ihre Massnahmen einzig danach bemisst, ob sie in der Zielsetzung erfolgreich sind, kann letztlich machen, was sie will. Es ist der populistische Joker, den Polizei und Politik in solchen Fällen immer ziehen können. Jede Massnahme, mag sie noch so unverhältnismässig oder juristisch fragwürdig sein, wird zur Legitimation des Vorgehens. Nach dem Motto: Dass es ruhig geblieben ist, zeigt, dass unsere Massnahmen richtig waren. Oder in den Worten von Polizeisprecher Roman Kohler: «Ich rechtfertige heute lieber Wegweisungen als eine dritte Krawallnacht.»

In den Kommentarspalten klatscht es dafür kräftig Beifall. Sinnbildlich für eine aufgeladene und mittlerweile komplett verstellte Debatte, die nur noch zwei gegensätzliche Positionen zulässt: Entweder man ist für die Polizei oder gegen sie. Für die Jugendlichen oder gegen sie. Dabei gäbe es genügend Raum für Differenzierung und mindestens eine dritte, wenn nicht vierte, fünfte und sechste Position.

Was bis jetzt auch kaum thematisiert wurde, sind die Massnahmenverweiger:innen und Verschwörungsideolog:innen, die dankbar auf der jugendlichen Frustwelle mitsurfen. Am Sonntagabend haben sich etliche aus dem Anti-Corona-Lager unter die Leute am Bahnhof gemischt, darunter auch der Thurgauer Daniel Stricker (Stricker.tv), der selbstverständlich keine Maske trug – im Gegensatz zu den Jugendlichen, die sich grösstenteils an die Massnahmen hielten.

Die Polizei hat es nicht für nötig befunden, diese Gruppe von Massnahmenverweigerern auf die Maskenpflicht hinzuweisen – «weil das gerade keine Priorität hat».

Ein Bild, das sich einbrennt

Die Polizei hätte den Jugendlichen gegenüber anders reagieren können. Sie hätte in der Innenstadt gezielt und dezentral Ansammlungen von mehr als 15 Personen an neuralgischen Punkten verhindern können. Das wäre mit diesem Maximalaufgebot locker möglich gewesen. Sie hätte dabei auch gezielt Einzelfallprüfungen vornehmen können.

Dass sie das nicht tat, zeigt, worum es der Polizei auch ging: um Machtdemonstration und Einschüchterung. Das demütigende Bild, sich wie Schwerverbrecher:innen an eine Wand zu stellen, bewacht von bewaffneten Polizist:innen, wird den Jugendlichen nicht mehr so schnell aus dem Kopf gehen.

Die Absicht zur Differenzierung, zum Dialog, ist spätestens mit der letzten Tränengaswolke am Freitagabend verflogen. Übrig geblieben ist eine Politik und Polizei, die ihr Handeln als alternativlos darstellt.

Statt über ein anderes Vorgehen nachzudenken, selbstkritisch, verweist die Polizei gütigerweise darauf, dass das Rayonverbot natürlich nicht bedeute, dass man nicht zur Arbeit oder zum Einkaufen dürfe. Nur eben draussen keinen Spass haben, jetzt, wo es wieder warm wird.

Im «Tagblatt» bittet der Mediensprecher der Stadtpolizei am Montag um «Verständnis» für die Kontrollen, nicht aber um Entschuldigung für die Willkür. Hier spricht eine Polizei, die, von der Regierung abgesegnet, für einen Abend ausser Kontrolle geraten ist. Und danach, wiederum in aller Güte, auf Rechtsmittel verweist, die gegen die Wegweisung ergriffen werden könnten.

Die allermeisten Jugendlichen, mit denen wir sprachen, hatten keine Ahnung wie ihnen geschah und was die Wegweisung überhaupt bedeutet. Sie sind 16, 17, 18 und unerfahren im Umgang mit der Polizei, trauen sich nicht, genauer nachzufragen. Nur wenige werden voraussichtlich Rechtsmittel ergreifen, die immer auch mit einem hohen finanziellen und administrativen Aufwand verbunden sind. Die Polizei wiederum wird sich in ihrem Vorgehen bestätigt sehen, schliesslich kann man ja Einsprache erheben.

650 Personen auf Verdacht fichiert

Was bisher noch kaum erwähnt wurde: Die Polizei hat nicht einfach 650 Wegweisungen ausgesprochen. Sie hat alle Personen fotografiert und damit kleine Fichen angelegt. Sie wird diese Bilder mit den Krawallen vom Freitag abgleichen.

Das kann man für sinnvoll erachten, wieder aus der Perspektive, dass der Zweck alle Mittel heiligt. Es ist aber auch mehr als problematisch, wenn die Polizei auf Verdacht 650 Personen katalogisiert und damit Daten über Personen sammelt, denen kein konkreter Vorwurf gemacht werden kann.

Das passt zu anderen Stimmen und Vorkommnissen, die aktuell kein gutes Licht auf die Stadtpolizei werfen. Zwei Beispiele:

Im vergangenen November knüppelte sie ohne grosse Vorwarnung eine harmlose Gegendemonstration nieder, nachdem sie zahlreiche Coronademonstrationen im Vorfeld toleriert hatte. Erst kürzlich nahm sie mehrere Klimastreik-Aktivist:innen in Gewahrsam und unterzog alle einer Leibesvisitation. Wie Betroffene berichten, mussten sie während Stunden in kalten Zellen und ohne warme Kleidung ausharren. Und sich herabwürdigende Kommentare anhören. Ihr Vergehen: Sie hatten in der Innenstadt Plakate aufgehängt.

Kommunikation von oben herab

Zum Verständnis der aktuellen Situation gehört auch die Rolle der Medien. Sie waren es, in ihrer Mehrzahl, die den Ausnahmezustand herbeigeschrieben haben. Nicht nur das «St.Galler Tagblatt» griff rhetorisch tief in die Sensationskiste und sorgte gemeinsam mit anderen Livestreams und Livetickern für jene Öffentlichkeit, welche die Jugendlichen gesucht und provoziert hatten. Die Ausschreitungen entstanden dann aus dem Wechselspiel aus der jugendlichen Eskalationsbereitschaft und dem medialen Getöse.

Dazu passt der Polizeiheli, der öffentlichkeitswirksam stundenlang über der Stadt kreiste. Er trug seinen Teil zum Ausnahmezustand bei und manifestierte den Generalverdacht, unter dem die Jugendlichen stehen: Helikopter, das ist Kriegszustand, Kommunikation von oben herab statt auf Augenhöhe. Wie die überambitionierten Eltern zeigt die Helikopterstadt so ihrem Nachwuchs den Mahnfinger.

Das ist der falsche Weg, um Jugendliche ernstzunehmen, geschweige denn, «die Gewaltspirale zu durchbrechen». Auf die kurze Phase der Sichtbarkeit und des Ernstnehmens von Jugendlichen wird bald wieder Paternalismus und ihre Stummschaltung folgen. Es ergeht ihnen damit wie anderen sozialen Gruppen mit fehlender oder zu schwacher Lobby.

Die Gewalt am Freitagabend war erschreckend, doch der Polizeieinsatz am Sonntag darf nicht zur Blaupause werden, wie künftig mit solchen Konflikten umgegangen wird. Der Aufruhr hat diverse soziale und politische Ursachen, die auch dementsprechend aufgearbeitet werden müssen, und zwar nachhaltig und ohne unnötige Kraftmeierei.