Heimleiter für Schwererziehbare

Lies mit uns! Die CaBi-Anlaufstelle gegen Rassismus hat eine Lesekampagne mit Irena Brežnás Buch Die undankbare Fremde gestartet.

Von  Eva Bachmann

«Wir liessen unser Land im vertrauten Dunkel zurück und näherten uns der leuchtenden Fremde. ‹Wie viel Licht!›, rief Mutter. Die Strassenlaternen flackerten nicht träge orange wie bei uns, sondern blendeten wie Scheinwerfer. Mutter war voller Emigrationslust und sah nicht die Schwärme von Mücken, Käferchen und Nachtfaltern, die um die Laternenköpfe herumschwirrten, bis sie, angezogen vom gnadenlosen Schein, verbrannten und auf die saubere Strasse herunterfielen.»

 

So beginnt Irena Brežnás Roman, und so beginnt nach der Flucht aus der düsteren Diktatur die lichte Zukunft im neuen Land. Doch Glücksgefühle wollen sich keine einstellen, das Mädchen ist vielmehr auf das Unerwünschte, die Mücken und Käfer, fixiert. Niemals will es so werden wie die Fremden, sich niemals so nah heranwagen, dass es sich verbrennt. Das führt zu Konflikten: «Hier herrschte das System und ich war der pure Zufall.» – «Sie hielten die Zeit an kurzer Leine, meine Zeit war ein steiler Schwalbenflug.» – «Ich hielt sie für verklemmt, sie mich für unberechenbar.»

Das Mädchen begehrt auf. Es motzt. Fazit: Integration fehlgeschlagen?

Von Jodeln bis Pilates

«Unter Integration wird heute weitgehend Assimilation verstanden», sagt Marina Widmer von der CaBi-Anlaufstelle gegen Rassismus in St.Gallen. «Dankbarkeit und Anpassung wird erwartet», die Migrantinnen und Migranten sollen unauffällig sein. Sie sollen sich integrieren, doch Integration sei ein gemeinsamer Prozess.

«In welche Gesellschaft sollen sie sich denn integrieren: in den Jodlerklub, in die Pilates-Gruppe, in eine städtische oder ländliche Kultur? Die Schweizer Gesellschaft in sich ist vielgestaltig.» Für Marina Widmer ist das Ziel der gegenseitige Respekt gegenüber dem Anderssein. Und das Öffnen von Räumen für ein Miteinander. Dass die Fremden an ihrer Kultur festhalten, akzeptieren viele schlecht, dabei wäre das gegenseitige Kennenlernen eine grosse Bereicherung.

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Irena Brežná, brezna.ch

Genau davon erzählt das Buch von Brežná. Die einen verlangen von der Zugewanderten, dass sie zuverlässig und pünktlich wird wie eine Schweizer Uhr. Die anderen spielen die Mitleidskarte angesichts des schweren Schicksals. Die gegenseitigen Vorurteile sind zementiert. Und das Buch findet dafür deutliche Worte: Die Schweizer seien in ihrem Herzen «passionierte Heimleiter für Schwererziehbare», heisst es darin. «Das muss man aushalten», sagt Marina Widmer. Das Buch fordert zur Diskussion heraus.

Wut und Schalk

Irena Brežná ist 1968 aus der Tschechoslowakei in die Schweiz gekommen. Und sie hat sich lange Zeit gelassen, um Die undankbare Fremde zu schreiben. Es brauchte Mut, aber es brauchte auch die Überwindung der Wut.

Der Text ist von einem feinen Schalk durchzogen, der schwere Erfahrungen in ein Lächeln auflöst. Eingeflochten sind auch Geschichten von anderen Migranten, mit denen Brežná als Dolmetscherin in Kontakt kam. Am Schluss findet die Protagonistin zu einer Versöhnung mit ihrer neuen Heimat, indem sie sich selbst und allen anderen zugesteht, so zu leben, wie sie halt sind.

Dass Auseinandersetzung und Versöhnung möglich sind, hat Irena Brežná bei Lesungen erfahren. Aus der Betroffenheit auf beiden Seiten entstanden Gespräche. Sie schreibt dazu: «So stelle ich mir die Einwanderungsgesellschaft vor, als eine schmerzvolle und befreiende gegenseitige Annäherung. Wir erzählen uns Geschichten, schöne, schreckliche, witzige, Erfahrungen und Gedanken vom anderen Ufer. Doch der Fluss ist derselbe. In die multikulturelle Gesellschaft – und sie ist nicht mehr rückgängig zu machen – müssen sich alle integrieren.»

Geschichten, die menscheln

Die Lesekampagne will diese vertiefte Diskussion darüber anstossen, wie wir alle miteinander leben können. «Das Buch spricht viele an», sagt Marina Widmer, «das Erzählen ermöglicht es, andere Menschen in ihren Gefühlen wahrzunehmen».

Für Gruppen, die gemeinsam Die undankbare Fremde lesen wollen, hat das CaBi-Team eine Lesemappe zusammengestellt, und es unterstützt Organisationen, die eine Lesung mit Irena Brežná organisieren wollen. In St.Gallen, Heerbrugg, Herisau und Rorschach hat die Idee schon Fuss gefasst, auch Dozentinnen an der Pädagogischen Hochschule und der Fachhochschule für Soziale Arbeit wollen den Roman aufgreifen. Weitere – hoffentlich viele – sollen folgen.

 

 

Brezna«Reden wir über gesellschaftlichen Rassismus» – Im Rahmen der Lesekampagne ist Kijan Espahangizi vom Zentrum des Wissens an der ETH Zürich an der Erfreulichen Universität im Palace St.Gallen zu Gast: Dienstag, 28. April, 20.15 Uhr.

Weitere Veranstaltungsdaten und Materialien zum Buch: liesmituns.ch

Irena Brežná: «Die undankbare Fremde», Galiani Berlin, 2012, Fr. 23.90 / TB Fr. 12.90