Haftgenossen, Buchgenossen

Rund zwei Dutzend zumeist Ostschweizer Autorinnen und Künstler haben an der «Geografie der Freiheit» mitgearbeitet. Das Buch ist dank dem interkantonalen Förderprogramm Buch und Literatur Ost+ entstanden – jetzt sind die nächsten zwei Förderprojekte bekannt.
Von  Peter Surber
Katja Schenkers Performance «vesuv»(2014, Bild: Emmanuelle Bayart, aus dem Buch)

Isuf Sherifi kennt beides: die Freiheit und das Gefängnis. Zweieinhalb Jahre sass er in Kosovo in Haft als politischer Gefangener, bevor er in die Schweiz kam. Aber auch hier, so schreibt der in Wittenbach lebende Autor in seinem Beitrag zur Geografie der Freiheit, gibt es unterschiedliche Freiheitsgrade. «Auch hier musste ich erfahren, dass die grösste Freiheit den alteingesessenen Bewohnern dieses Landes, den Eidgenossen vorbehalten ist.»

Die ganze Welt ein Gefängnis: Das ist das Bild, das der britisch-französische Schriftsteller John Berger (1926-2017) in seinem Essay Haftgenossen 2008 beschreibt, und dies ausdrücklich «nicht im metaphorischen, sondern im wahrsten Sinn des Wortes». Im Zeitalter der Globalisierung sei die Welt vom Finanzkapital beherrscht, dessen «Inhaftierungslogik» sich auf alle möglichen Zonen ausdehne, auf «Arbeitsplatz, Flüchtlingslager, Einkaufszentrum, Randzone, Ghetto, Büroblock, Favela oder auch Vorort». Produzenten wie Konsumenten würden zu «Haftgenossen» unter der Tyrannei des Markts, mit den Regierungen als gehorsamen «Aufsehern».

John Berger (Porträt von Ute Schendel aus dem Buch).

Bergers Essay hat den St.Galler Verleger Josef Felix Müller gepackt, wie er im Vorwort zum Buch schreibt. Er liess ihn ins Deutsche übertragen und fragte befreundete Autorinnen, Künstler und Mitdenkerinnen um einen Beitrag an.

Bergers Text erinnert frappant an Friedrich Dürrenmatts Preisrede auf Vaclav Havel, in der er seinerseits 1989, kurz nach dem Mauerfall, die Schweiz als Gefängnis beschrieben hatte. Die Provokation, die Dürrenmatts Brandrede damals auslöste, nehmen auch die Beiträge im John Berger gewidmeten, reich illustrierten Band auf – allen voran der St.Galler Autor und Theologe Rolf Bossart in seinen «Variationen» zu Berger unter dem Titel Das Schwierige an der Freiheit.

Freiheit und Solidarität

Bossart lässt Bergers «Welt- oder Menschheitsmetapher» nicht unwidersprochen. Sie berge, wie alle Pauschalisierungen, die Gefahr der Relativierung, die Gefahr, dass das reale, individuelle Leiden hinter der Abstraktion verschwinde. Mit Zitaten aus Gramscis Gefängnisheften, mit Zeugnissen prominenter Gefangener von Rosa Luxemburg bis Nelson Mandela oder mit Überlegungen zum «Privileg der Unsichtbarkeit», das künftig eines der wichtigsten Attribute der Freiheit sein werde und zugleich «ein Gut der Reichen», holt Bossart Bergers Abstraktion ins Konkrete zurück.

Schliesslich kommt Bossart auf die «Dialektik der Freiheit» zu sprechen und kontrastiert den Freiheitsdrang mit der Bedürftigkeit des Menschen. Freiheit könne nie total sein, sondern stets nur in Beziehung zur gegenseitigen Abhängigkeit, «anders gesagt: Jede Freiheit muss durch Akte der Solidarität gedeckt sein, wenn sie keine Freiheit auf Kosten der anderen sein will».

Noch konkreter wird Bergers bilderreicher, aber auch etwas fahriger Text in einem Porträt von Langzeitgefangenen, welches die Autorin und Regisseurin Anna Papst verfasst hat (Der lange Weg zurück), in Impressionen aus Bergers Wohnheimat Savoyen von Bettina Dyttrich oder in einem literarischen Rundgang von Vanessa Rüegger durch «Gefängnistexte» von Dürrenmatt, Glauser oder Foucault bis Stevenson.

Mit und trotz der Schwerkraft

Nochmal andere Assoziationsräume öffnen die Bildstrecken im Buch. Herausragend ist Katja Schenkers Performance vesuv, in der die Künstlerin einen schweren Stein an einer Leine in Drehung bringt, bändigt und eine Kratzspur auf dem Boden ziehen lässt – eine 27minütige Kraftanstrengung im Widerstand gegen die Gesetze der Physik. Weitere Bild- und Textbeiträge stammen von Karin K. Bühler, Hans Jörg Geiger, Vera Ida Müller, Lika Nüssli, Andrea Vogel, Laura Vogt und anderen. Von Annina Frehner ist Transit zu sehen, eine Installation im einstigen Flüchtlingsheim in Wienacht-Tobel, vom Art-Brut-Künstler Peter Wirz der Kopfzermalmapparat.

Geografie der Freiheit, hrsg. von Josef Felix Müller, Vexer Verlag St.Gallen 2019, Fr. 52.90

Entstanden ist ein Buch, das weniger «Haftgenossen» vereint als vielmehr eine lose «groupe de reflexion», die über die Bedingungen und Grenzen der Freiheit nachdenkt. Ein grosses Stück Freiheit bedeutete für den Herausgeber und Initianten Josef Felix Müller auch die Tatsache, dass das Projekt von den Ostschweizer Kantonen grosszügig gefördert wurde. «Ich musste für einmal nicht dem Geld nachrennen», sagte er an der Buchvorstellung.

Geografie der Freiheit war eines von drei Projekten, das für die erstmalige Beitragsvergabe des Förderprogramms Buch und Literatur Ost+ ausgewählt worden war. Die beiden anderen waren das Buch trobadora.montage einer Autorinnengruppe um Annette Hug und Sag mir, wo die Blumen sind der Liechtensteiner Anna Hilti.

Die nächsten: Annett Höland und Sarah Elena Müller

Jetzt sind die nächsten zwei Förderprojekte bekannt: Die Liechtensteiner Gestalterin Annett Höland macht sich auf die Spur des Kulturphilosophen Vilém Flusser im Projekt There’s something wrong with my hands. Oh yes, they’re not holding you. Und die St.Galler Autorin Sarah Elena Müller beschäftigt sich mit Ilse Aichingers Essays, Projekttitel: Meine Sprache und ich.

Wie im Förderprogramm vorgegeben, sind jeweils ganze Teams am Werk. Bei Annett Höland sind es Fachleute aus Kunst, Architektur, Forschung und Design. Sie gehen laut Jury der Frage nach, «welche Möglichkeiten und Einschränkungen die technologischen Mittel der undinglichen Welt in Zusammenhang mit der Produktion und Vermittlung von Inhalten, insbesondere mittels Text, bieten», und welche Rolle das Buch an der Schnittstelle zwischen digitaler und analoger Welt einnehmen kann. Ausgangspunkt ist Flussers Schrift Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen aus dem Jahr 1993, die unter anderem beobachtet, dass die Fingerspitzen zum wichtigsten Organ des Menschens geworden sind.

Zum 100-jährigen Geburtstag von Ilse Aichinger 2021 entwirft die Autorin und Musikerin Sarah Elena Müller in Kooperation mit dem Virtual Reality-Entwickler Benjamin Rudolf und Fachleuten aus den Bereichen Lyrik, Theater und Sprachphilosophie ein Virtual Reality-Erlebnis, das auf den kritischen Schriften der Autorin basiert. Begriffsschöpfungen, Sätze, Kurztexte und Interviewzitate von Aichinger werden in einer interaktiven Welt auditiv, visuell und haptisch erlebbar gemacht. «Der Kontrast zwischen der Textwelt Aichingers und einem Medium, das von einer fast übersteigerten Hyperzugänglichkeit seiner Inhalte träumt, bietet Reibungsfläche», heisst es in der Beschreibung des Projekts.

Buch und Literatur Ost+ ist 2017 ins Leben gerufen worden. Das auf vier Jahre angelegte, mit insgesamt 400’000 Franken dotierte Förderprogramm nach einem Konzept von Dorothee Elmiger und Johannes Stieger wird getragen von den Ostschweizer Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein. Ziel sei es, so Jens Lampater von der Projektgruppe, kollektives Arbeiten statt solistische Schreibbiotope zu fördern und der Literatur im Zusammenspiel mit anderen Sparten neue Resonanzräume zu eröffnen.